Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Dörfer im Tal lebten in relativer Sicherheit, denn es gab keine Wölfe oder fremden Reiter, auch keine Koris-Ungeheuer wie weiter draußen im Land. Die Feste stand drohend über dem kultivierten Land wie ein strenger Großvater über einer Lieblingstochter; auf dem Kopf eine Krone aus gezackten Mauern und Türmen.
Vanye liebte die Burg noch immer. Noch immer schössen ihm Tränen in die Augen beim Anblick dieses Ortes, der ihm soviel Pein gebracht hatte. Er dachte an seine früheste Jugend, an den Frühling, an die dicke weißmähnige Mai, die erste Mai – und an die beiden Brüder, die ein Wettrennen mit ihm austrugen an einem jener Tage, da die Luft so angenehm war, daß selbst sie ihren Haß auf den Jüngeren vergaßen, ein Tag, da die Obstgärten blühten und das ganze Tal in der Pracht weißer und rosaroter Baumwolken erglühte.
Vor ihm die Strahlen der untergehenden Wintersonne auf den Mauern, ringsum das Klappern bewaffneter Reiter, in seinen Armen Morgaines Gewicht. Sie war eingeschlafen, seine Arme waren leblos, sein Rücken ein einziges Feuer. Sie spürte wenig von dem Ritt, war sie doch überaus schwach, obwohl die Blutung gestillt war und die Wunde bereits zu heilen begann. Vielleicht hätte sie gegen das Schwächegefühl angekämpft, aber sie ahnte nicht, daß die Situation alles andere als gut war, außerdem behandelten die Männer aus Nhi sie freundlich. Sie gaben sich größte Mühe, ihr zu helfen, solange sie die Frau oder ihre Arzneien nicht anfassen mußten; ihre Angst vor Morgaine schien weitgehend verflogen zu sein.
Sie war blond und wirkte sehr jung und strahlte eine gewisse Unschuld aus, wenn die grauen Augen geschlossen waren. Selbst bei hochstehenden Frauen erlaubten sich Männer aus niedrigem Klan ihre wohlgemeinten gutmütigen Witze; bei einfachen Frauen waren selbst hochgestellte Männer weitaus direkter. Um Morgaine gab es solche Dinge nicht – vielleicht lag es daran, daß sie das Lordrecht hatte und daß sich ein
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um sie kümmerte, der sie verteidigen mußte; da er aber entwaffnet worden war, galt solches Verhalten nicht ehrenvoll; der wahrscheinlichste Grund lag aber darin, daß sie angeblich
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war, womit sich die Menschen keinen Spaß erlaubten.
Nhi Paren erkundigte sich gelegentlich nach ihrer Verfassung, und einige andere taten es ihm nach und wunderten sich, daß sie so fest schlief.
Von einem, Nhi Ryn, Sohn des Paren, kamen sogar Blicke der Bewunderung. Er war sehr jung; sein Kopf war voller Poesie und Legenden, und seine Geschicklichkeit mit der Harfe übertraf den Ehrgeiz der meisten hochgeborenen Männer. In seinen Augen lag zuerst reines Erstaunen, dann Anbetung – ein schlechtes Vorzeichen für das Schicksal seiner Seele.
Nhi Paren schien so etwas kommen zu sehen; mit scharfen Worten schickte er den Jüngling zur Nachhut, weit hinten in der Truppe.
Jetzt war es mit der Fürsorge aus; die Hufe klirrten auf dem Pflaster vor den Toren. Nhi Rej hatte die Kanäle und das Pflaster vor fünfzig Jahren angelegt und dabei die Arbeiten Yla Ens restauriert – und das war kein Luxus, denn ohne diese Anlagen wäre bei den Frühlingsregengüssen der ganze Hügel ins Tal gerutscht.
Sie betraten die Stadt durch das Rote Tor, das in der Tat rot schimmerte, in flottem Gewirr von Nhi-Standarten mit schwarzer Schrift. Außer dem Knallen der Flaggen im Wind und dem Hufschlag auf den Steinen war nichts zu hören. Im Hof eilte ein Diener herbei und verbeugte sich vor Nhi Paren. Befehle und Informationen wurden ausgetauscht.
Vanye blieb im Sattel sitzen und wartete geduldig auf eine Entscheidung über die weiteren Ereignisse. Endlich kamen der junge Ryn und ein zweiter Mann, um ihm mit Morgaine zu helfen. Er hatte mit einer Verhaftung oder Gewalttat gerechnet – mit irgend etwas. Doch es gab nur eine ruhige Diskussion, als wären sie ganz gewöhnliche Reisende. Man faßte den Entschluß, Morgaine im sonnigen Westturm unterzubringen, und die drei Männer trugen sie dorthin, gefolgt von den Wächtern. Sie gaben sie in die Obhut verängstigter Dienerinnen, die sich auf diese Aufgabe sichtlich nicht freuten.
»Laßt mich bei ihr!« flehte Vanye. »Sie wissen nicht, wie sie versorgt werden muß. Laßt ihr wenigstens die eigene Medizin!«
»Die Medizin soll sie haben«, sagte Paren. »Aber was dich betrifft, haben wir andere Befehle.«
Man führte ihn die Treppe hinab in einen tiefliegenden Korridor, in einen Gang, der ihm die Vergangenheit nahebrachte, denn dort zur Linken lag
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