Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
nicht wüßte, schließlich doch noch Schande auf sich laden und zu betteln beginnen würde. Er kannte Morgaines Ausrüstung und wußte, daß gewisse Gesetzmäßigkeiten und Grenzen dafür existierten; er wollte das nun auch für diesen Vorgang annehmen.
»Für mich ist es weniger angenehm als für dich«, sagte Liell. »Ich muß meinen jetzigen Körper soweit ruinieren, daß ich sterbe; du aber – du wirst den Eindruck haben, ein kleines Stück zu fallen. Dabei kommst du nicht unten an. Keine Angst: du mußt nicht leiden.«
Liell wußte um seine Angst und verspottete ihn damit. Vanye preßte die Lippen zusammen, neigte den Kopf und verzichtete auf eine Antwort.
»Deine Gefährten«, sagte Liell, »liegt dir an ihnen?«
»Ja«, entgegnete er.
Liells Lippen verzogen sich zu einem knappen Lächeln, das seine Augen nicht erfaßte. »Was Chya Roh betrifft, das ist eine alte persönliche Angelegenheit, die ich mit Freuden regele. Was du mir gleich überläßt, dein Körper, wird mit dem Lord von Chya ohne weiteres fertig, außerdem kann er infolge eures gemeinsamen Blutes sein Reich beanspruchen: außerdem Morija. Du hast deine Herkunft nie so hoch geschätzt wie ich. Und hab keine Angst um Morgaine. Ohne ihre Waffen ist sie harmlos. Sie verfügt über Kenntnisse, die von großem Interesse für mich sind.
Außerdem ist sie für deine Jugend in anderer Hinsicht interessant. Flis ist langweilig geworden.«
Vanye machte ein Geräusch, als wolle er ausspucken, was Liell weder belustigt noch besorgt zur Kenntnis nahm. Anschließend setzten sie den Aufstieg fort. Vanye sperrte sich, und man drehte ihm wieder brutal die Arme auf den Rücken. Er gab den Widerstand auf, gebannt von dem, was vor ihnen aufragte.
Das gesamte Blickfeld war dunkel, die Sterne zahlreicher als die am natürlichen Himmel, unzählige Sternenwolken. Die Luft war wie abgestorben. Sie hatte einen betäubenden Einfluß. Die Vision schien sie förmlich in das schimmernde Nichts hineinzuschlürfen, obwohl sie noch weiter emporkletterten, und zwar scheinbar in eine Tiefe, in die man endlos stürzen konnte und über die sie in unmöglichem Winkel geneigt waren. Der Berg, den sie bestiegen, schien sich nicht mehr in der Horizontalen zu befinden. Der Wind umtoste sie boshaft, stimmenerfüllt, vor Energie summend, die Sinne betäubend.
Liell erreichte das Tor und berührte seinen Bogen. Er bewegte die Finger darauf, und abrupt herrschte innerhalb des Tors vollständige Dunkelheit. Der Wind erstarb. Das Summen veränderte sich, wurde schriller. Der Glanz, den auch
Wechselbalg
verströmte, sprühte im Tor auf, flirrend, sie mit Lichtstrahlen attackierend.
Die Leth gerieten ins Stocken. Vanye fuhr herum, warf sich hangabwärts, verlor den Halt und stolperte in die Tiefe, bis er an einer ebenen Stelle abgebremst wurde und betäubt und geblendet auf die Füße taumelte. In der zunehmenden Dunkelheit hörte er vor und hinter sich Gebrüll.
Fort!
Das war das einzige, was seine Sinne in diesem Augenblick bewegte, und dicht neben dieser einsamen Fackel der Vernunft:
Morgaine!
Er konnte ihr nicht helfen. Ein Dutzend Männer hätte sich auf ihn gestürzt, ehe er sie befreien konnte.
Wechselbalg.
Er rannte los, durch das Kettenhemd geschützt, während die Haut seiner Hände an Felskanten hängenblieb, während sein Körper gegen zahlreiche Vorsprünge prallte. Unten versuchten ihm Männer den Weg zu verlegen. Er atmete keuchend ein, wandte sich nach links, entfernte sich von Morgaine und Roh und trieb dabei die rastenden Pferde auseinander. Dann sah er den vertrauten Schwarzen vor sich: er sprang in den Sattel, klammerte sich fest, angelte die herabhängenden Zügel hoch. Das Tier kannte ihn, streckte sich, galoppierte los.
Schon nahmen Reiter die Verfolgung auf. Tumult und Gebrüll folgten ihm, doch es wurde nicht auf ihn geschossen. Er versuchte nicht bergan zu fliehen, wollte den fürchterlichen Aufstieg nicht noch einmal machen, nicht vor Verfolgern und Feinden und mit einem verängstigten Pferd. Statt dessen ritt er auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.
Wenn ihm der Weg zum Tor versperrt war, hatte er eine zweite Möglichkeit in Ra-hjemur, wo Thiye herrschte.
Wechselbalg
hing unter seinem Knie, der Drachengriff ein vertrautes Relief unter den nervösen Fingern. Mit dieser Waffe, die genährt wurde von der Kraft des Tors, konnte er bis zum Zentrum von Thiyes Macht vordringen, konnte ihren Quell vernichten, worin immer der bestehen mochte, konnte das
Weitere Kostenlose Bücher