Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
einem Mord aufgefordert hatte — sie, das verängstigte Kind, das er mit zurückgenommen hatte, eine Myya, und am Leben, wohingegen es ihm noch am liebsten gewesen wäre, wenn keiner ihrer Sippe mehr lebte.
Zu gern wäre er nun einfach von ihr fortgeritten, hätte mit Morgaine einen unbekannten Ausweg aus Ohtij-in gesucht; aber es gab keine anderen, und nach wenigen Meilen würde ihnen der Suvoj den Weg versperren. Sie hatten keine Eile, sie brauchten nicht zu hetzen, mußten nur aus den Mauern heraus, wo noch einige Verzweifelte unter den mächtigen Steinbrocken nach Verschütteten suchten, denen ohnehin nicht mehr geholfen werden konnte.
Eine Kette von Wanderern erstreckte sich von Ohtij-in in nördlicher Richtung; dieser Kolonne schlossen sie sich an, kamen aber schneller voran als die armen Leute, die zu Fuß gehen mußten.
Und als sie auf der Straße ein gutes Stück zurückgelegt hatten, begann die Erde erneut zu beben und zu grollen. Vanye drehte sich im Sattel um, und andere wandten ebenfalls den Kopf und sahen den dritten Turm einstürzen: und als er noch hinschaute, sank auch das Mittelstück in sich zusammen. Das dazugehörige Krachen und Poltern erreichte sie eine Sekunde später, ein An-und Abschwellen. Jhirun schrie leise auf, und ein Klagelaut stieg aus der Menge auf, ein schrecklicher, jammervoller Ton.
»Die Burg ist vernichtet«, sagte Vanye und dachte mit schwerem Herzen an die Toten, die es dort gegeben haben mußte, an einen bewußtlosen Feind und an die Pechvögel, die Unschuldigen, die von ihrem Suchen nach Überlebenden und nach Schätzen nicht ablassen wollten.
Als einzige hatte sich Morgaine nicht umgedreht; sie ritt mit starrem Gesicht weiter nach Norden. »Zweifellos«, sagte sie nach einiger Zeit, »hat die Lücke am Tor dem Wachtturm die Stabilität geraubt, und der Fall des Wachtturms machte Bahn für den Einsturz des nächsten, und so begann es — vielleicht wäre Ohtij-in sonst stehengeblieben.«
Also ihr Werk, die ja das Tor vernichtet hatte. Vanye hörte den hohlen Ton ihrer Stimme und verstand das Elend, das sich darunter verbarg.
Ich schaue nicht auf das, was ich zurücklasse,
hatte sie gesagt.
Nun wünschte er, er hätte sich ebenfalls nicht umgedreht. Der Regen flüsterte im Gras auf den Hügeln und in den Pfützen auf der Straße, und ein Fluß folgte schäumend seinem Lauf zwischen den Hügeln, in schneller Bewegung über Büsche und Hindernisse fließend. Ab und zu passierten sie einen Mann mit seiner Familie, die müde geworden war und sich am Hang ausruhte. Manchmal kamen sie an zurückgelassenen Bündeln vorbei, hingeworfen, wenn jemand seine Last nicht länger tragen konnte. Und einmal lag ein alter Mann zusammengekrümmt am Wegrand. Vanye stieg ab, um sich um ihn zu kümmern, doch er war tot.
Jhirun raffte den Schal um sich und weinte. Morgaine zuckte hilflos die Achseln, forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, wieder in den Sattel zu steigen und den Vorfall zu vergessen.
»Sicher sterben auch noch andere«, sagte sie, und das war alles — keine Tränen, keine Reue.
Er kehrte in den Sattel zurück, und sie ritten weiter.
In den Wolken klafften nun breite Risse, und einer der Monde schien im Tageslicht herab, schwach und bleich, ein Stück des Zerbrochenen Mondes, das sich schneller bewegte als die anderen; der riesige Schrecken Lis mußte sich noch zeigen.
Die Hügel schnitten den Ausblick auf das Zurückliegende ab, graugrüne Anhöhen, die sich in immer neuen Kämmen vor ihnen auftaten und hinter ihnen zuwuchsen; und allmählich brachte sie der gleichmäßige Schritt der Pferde an die Spitze der langen Reihe erschöpfter Flüchtlinge. Sie beeilten sich nicht übermäßig, denn einen anderen Weg als den der Wanderer gab es nicht, und es lag kein Vorteil darin, einen großen Vorsprung herauszuholen.
Als erste erreichten sie den Hügel über der kürzlich überschwemmten Ebene, den Einschnitt des Suvoj, wo noch immer große Wasserflächen ihre zinngrauen Zungen dem bewölkten Himmel entgegenstreckten, Teiche, Felsen, die seltsame Formen besaßen, Steine, die fester waren als die abschleifenden Kräfte des Wassers; es war eine abweisende, tote Landschaft, die sich weit bis zu den anderen Hügeln erstreckte, doch die Straße führte bis zum Fluß hindurch, und dort erzeugten die Steine unter dem Wasser nur einen leichten Wirbel.
Ein seltsamer Gestank stieg von dem verfaulenden Land auf, der Geruch des Meeres, vermengt mit dem des Todes. Vanye fluchte
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