Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
Riesen in der Dunkelheit und im Regen über ihm.
»Liyo!«
rief er in das Gebrüll des Wassers und des Windes. »Morgaine!«
Es kam keine Antwort.
6
Die Morgendämmerung setzte ein, die tristen grauen Wolken gaben das Licht indirekt weiter. Vanye watete durch einen flachen Wasserlauf, erreichte das Ufer und ruhte sich an einem Baumstamm aus, der unterspült worden und ins Wasser gestürzt war. Vielleicht war dies sogar der Stamm, an dem er den Kreis seiner Suche begonnen hatte, vielleicht aber auch nicht. Er wußte es nicht mehr. Bei Licht verändern alle Dinge ihre Form. Allgegenwärtig war das nachdrückliche Brausen der Flut, das Prasseln des leichten Regens auf den Blättern, doch immer nur Wasser, Wasser, das die Sinne betäubte.
»Morgaine!« rief er. Wie oft er diesen Namen schon gerufen hatte, welche Flächen er schon abgesucht hatte, wußte er nicht mehr. Er war die ganze Nacht hindurch auf den Beinen gewesen, hatte die Ruinen und eine Insel nach der anderen abgesucht, während er zwischendurch immer wieder zu Boden sinken und sich ausruhen mußte. Seine Stimme war vor Heiserkeit kaum noch zu hören. Die Rüstung lag ihm qualvoll schwer auf den Schultern, und seine Knie hätten sich am liebsten nicht mehr gestreckt, hätten ihn in die Kälte und den Schlamm und das Wasser sinken lassen, die ihn zuletzt wohl doch besiegen würden.
Doch er wollte nicht aufgeben, ohne zu wissen, was aus seiner Herrin geworden war. Anderen Verantwortungen seines Lebens hatte er sich nicht gestellt: gegenüber der Familie, gegenüber Freunden, von denen einige tot waren, doch sie hatten andere gehabt, auf die sie sich verlassen konnten — Morgaine aber nicht, Morgaine hatte niemanden.
Die Ellenbogen gegen den Bauch und den Stamm gestemmt, beugte er sich vor, zog den einen, dann den anderen Fuß aus dem Schlamm, der an seinen Sehnen und Muskeln zog und ihn für sich beanspruchte, sobald er eine Pause einlegte. Der verrottende Stamm wurde seine Brücke zum höheren Terrain. Er erstieg sie zum Ufer, gebrauchte das Unterholz als Halt und mühte sich zur Kuppe des Hügels empor. Die Düsternis versuchte ihn einzuholen, der Pulsschlag trommelte ihm laut in den Ohren, er spürte Druck in den Schläfen. Er ging weiter. Zuweilen spürte er nur noch äußere Berührungen, die rauhe Nässe von Rinde, den beißenden Schlag von Blättern und Ästen, denen er nicht auswich, weil er nichts sah, die Glätte feuchten Laubes unter den Fingern, wenn er sich einen weiteren Hang hochkämpfte.
Er glaubte wieder in Morija zu sein, verfolgt von Bogenschützen der Myya oder anderen. Er wußte nicht mehr, wo dieser Ort lag, warum er so grausam geprüft wurde, ob er selbst verfolgte oder verfolgt wurde; es war wie tausend andere Alpträume seines Lebens.
Dann zuckten spöttische Gespenster durch seine Erinnerung, und er erinnerte sich wieder, konnte aber Vision und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden. Er wußte, daß er außerhalb aller Tore stand und daß er verloren war.
Ihm kam der Gedanke, daß Morgaine tot sein könnte; er wies diese Möglichkeit nicht mit Logik, sondern mit Überzeugung zurück. Menschen starben, Armeen gingen unter, doch Morgaine überlebte, sie überlebte, wo andere verloren waren, wenn sie es nur wollte; sie mochte sich verirrt haben, mochte verletzt sein, mochte allein und ohne Pferd herumirren: diese Bilder quälten ihn. Alles andere war undenkbar.
Bestimmt hatte sie zuerst an sich selbst gedacht, als sich die Masse des Baumes herbeiwälzte, hatte sich geschützt, während er sie zu schützen versuchte, Jhirun bereits vergessen. Siptah hatte sich zwischen Morgaine und dem Baum befunden, ebenso der Wallach. Instinktiv hatte sie — endlich funktionierte sein Verstand wieder besser, nachdem er die Möglichkeit konstruiert hatte, daß sie überlebt haben mußte —, bestimmt hatte sie ihn instinktiv untergehen lassen, während sie sofort zum Ufer strebte, denn sie hatte
Wechselbalg
bei sich, und deshalb hätte sie bestimmt um ihr Leben gekämpft. Das waren die Reflexe, nach denen sie lebte. Für sie gab es nur ein Gesetz: die Tore um jeden Preis zu finden. Panik würde sie nur auf den Willen zu leben reduzieren, alles andere vorübergehend vergessen lassen.
Und als dann die Panik nachließ, hatte sie vielleicht gewartet, um ihn zu suchen, so lange, wie sie es für wahrscheinlich hielt, daß er überlebt hatte. Aber sie wußte zugleich, daß er nicht schwimmen konnte, und würde daher nicht ewig suchen.
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