Morgen des Zorns
aufregenden Tag und der Erschöpfung und dem Weinen die Stille sehr genossen habe in jener Nacht. Mehr als zwei Stunden lang habe ich dagesessen und mir gewünscht, diese Ruhe würde ewig währen. Aber dann schaltete sich ganz abrupt der Strom wieder an, und innerhalb von Sekunden passierte etwas, was ich nicht vergessen kann. Ehrlich gesagt habe ich außer meiner Mutter niemandem davon erzählt. Und heute, wo meine Mutter tot ist, gibt es außer mir niemanden, der weiß, was ich gesehen habe. Aber Ihnen, von dem ich nicht weiß, wer Sie zu mir geschickt hat, wollte ich es erzählen. Ich habe mich während des Stromausfalls nicht von hier weggerührt, von diesem samtenen Kanapee. Ich habe nur alle halbe Stunde ein Streichholz entfacht, um mir eine Zigarette anzuzünden. Doch als der Strom wieder da war, habe ich ganz plötzlich etwas Seltsames gesehen, und ich erzähle es Ihnen, weil seitdem vierzig Jahre vergangen sind:
Hier im Wohnzimmer und im ganzen Haus ging also das Licht wieder an, und mit dem Strom begann das Radio ganz laut zu spielen. Sehr laut sogar, obwohl ich es, als der Strom ausgefallen war, so leise gestellt hatte, dass niemand außer mir es hatte hören können. Ich war überrascht, mitten in der Nacht plötzlich so laut die Stimme von Umm Kulthoum zu vernehmen. Meine erste Reaktion war, in Richtung Ihres Hauses zu schauen, ich wollte in Erfahrung bringen, ob Ihre Mutter oder jemand anderer dort ebenfalls das Lied hören könnte. Das tat ich sogar noch, bevor ich die Hand zum Radio ausstreckte, um es leiser zu stellen. Auf jeden Fall … all das geschah innerhalb von Sekunden. In meinem Gedächtnis hat sich ein Bild eingeprägt, obwohl ich es in dem Augenblick, in dem ich es tatsächlich sah, gar nicht wahrgenommen habe, sosehr war ich mit dem Radio beschäftigt. Dass es so laut spielte, würde mir Ärger einbringen, und mein Vater würde mich wegen meiner Schlamperei in diesen Dingen maßregeln und sagen, es sei eine Schande, trotz all der getöteten Nachbarn und Freunde Radio zu hören. Als ich das Radio endlich ausgeschaltet hatte und sicher sein konnte, dass niemand über mich herfallen würde, weil sie nach zwei schlaflosen Nächten alle tief und fest schlummerten, setzte ich mich wieder auf das rote Kanapee. Erst in diesem Moment fiel mir wieder ein, was ich gerade in Ihrem Haus wahrgenommen hatte und was sich noch immer vor meinen Augen abspielte. Ich erblickte Fuâd und Butros al-Râmi auf dem Balkon, ganz wie früher. Ich hatte das Gefühl, mich in der Zeit zu verlieren und eine Szene aus vergangenen Tagen zu sehen, die immer noch in meinem Gedächtnis haftete. Sie wissen, wer Fuâd und Butros al-Râmi sind, nicht wahr? Ja, es waren die dicksten Freunde Ihres Vaters gewesen. Aber wie konnten sie sich hier aufhalten, wo sie doch der Râmi-Familie angehörten?
Wir kannten Fuâd, ihn und seinen Bruder Butros, sie hatten sich manchmal mit Ihrem Vater ein Gläschen auf dem Balkon genehmigt. Kâmleh hatte ihnen die Vorspeisen zubereitet, und der Geruch von gegrilltem Fleisch und ihr Gelächter waren zu uns herübergedrungen. An manchen Abenden hatte Fuâd al-Râmi insistiert, dass Kâmleh ihnen etwas vorsingen soll, auch Ihr Vater hat sie dazu ermuntert, und so erfüllte sie die Nacht manchmal mit einem populären Volksliedchen, wofür sie langen Beifall erhielt, den sie mit einem verschämten Lachen quittierte.
Später erzählte man uns, sie seien gekommen, um Kâmleh ihr Beileid auszudrücken. Jemand habe sie im Dunkel der Nacht zu ihr geführt. Es drangen keine Worte von ihrem Balkon zu uns herüber. Sie flüsterten … Als der Strom wieder da war, ging die Lampe auf Kâmlehs Balkon an. Die beiden Männer saßen mit Ihrer Mutter und deren Freundin Muntaha dort. Ich blieb bis zum Morgen auf dem Kanapee sitzen, bis meine Mutter aufwachte, mich an der Schulter rüttelte und mich aufforderte, hineinzugehen und in meinem Bett zu schlafen. Während der ganzen Zeit, die ich dort gesessen habe, habe ich im Halbschlaf immer wieder in die Richtung Ihres Hauses geblickt. Um ehrlich zu sein, bin ich mir aber nicht sicher, ab wann genau ich dort niemanden mehr auf dem Balkon habe sitzen sehen.
XIX
Sie wussten nicht mehr ein noch aus, und der Kampf zog sich in die Länge.
Auch Jûssef Saîd al-Râmi wusste sich keinen Rat mehr.
Er konnte seinen Olivenhain nicht mehr bewirtschaften, weder die Bäume mit seinen groben Händen abernten noch sie mit der Pumpe wässern, die er auf der Schulter trug. Das
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