Morgen des Zorns
dass beide Parteien Gewehr bei Fuß standen. Aller Wahrscheinlichkeit nach beschränkte sich die Angelegenheit in diesem Fall darauf, eine allgemeine Anwesenheit unter Beweis zu stellen. Und diese würde keine Opfer zur Folge haben. Die vielleicht schrecklichste Sorte von Schüssen war jedoch die, die man nicht aus der Ferne hörte, weil sie aus nächster Nähe abgeschossen wurden, so nah, dass es unmöglich war, das Ziel zu verfehlen. Sehr häufig war der Satz zu vernehmen: »Dieser Schuss hat mir gar nicht gefallen«, eine Einschätzung, die meist eher den desolaten psychischen Zustand des Sprechers widerspiegelte als dass sie von konkreten Fakten zeugte. Diese negative Beurteilung – die oft in eine offene Beschimpfung umschlug – bezog sich insbesondere auf einen einzeln abgegebenen Schuss, wahrscheinlich aus einem Gewehr, der die Stille der Barrikaden durchbrach und das Gefecht aufflammen ließ. Als die Ereignisse zu Ende gingen, wusste niemand, wem das Gewehr gehört hatte, und es war nicht erwiesen, aus welcher Richtung das Feuer abgegeben worden war. Vielmehr stellte sich heraus, dass jede Seite angenommen hatte, der Schuss sei von der gegenüberliegenden Barrikade gekommen.
Es gab da die Sache mit dem Echo. Besuch, der zum ersten Mal bei uns war, war verblüfft, denn aufgrund des Echos wussten wir, dass der Ursprung von aus dem Osten kommender Geräusche an der westlichen Front liegen musste. Schwieriger war es für uns, den Ursprung der Explosionen zu erkennen, als etwa die erste 60-mm-Granate einschlug, die in Richtung unseres Viertels abgeschossen worden war. Als meine Mutter den vom Flussufer aufsteigenden Rauch entdeckte, weiteten sich ihre Augen, und mein Vater fasste insgeheim den Entschluss, dass wir von hier fortgehen würden.
Wir mussten das Haus gar nicht verlassen, um zu wissen, dass etwas Schreckliches passiert war. Es war eine schlimme Nacht, in der niemand im Viertel Schlaf fand. Von Zeit zu Zeit vernahmen wir ein Weinen, und irgendjemand bestand darauf, dass die Trauerglocke geläutet wird. Haben Sie schon einmal die Trauerglocke mitten in der Nacht läuten hören? Einzelne Schmerzensschreie drangen bis zu uns, die Menschen hielten Wache bei den Toten, und uns war es verboten, das Haus zu verlassen. Selbst zur Beerdigung am nächsten Tag trauten wir uns nicht. Man erzählte uns, dass der Erzbischof alle dazu aufgefordert hätte, von nun an auf Hass und Blutrache zu verzichten und Milde walten zu lassen. Da hätten sich empörte Stimmen erhoben, so dass er gezwungen gewesen war, seine Predigt vorzeitig abzubrechen. Auch ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen. Die Luft war drückend. Wir wussten, dass sie sich bei der Kirche versammelt hatten und weinten, doch ihr Weinen drang nicht bis zu uns herüber.
Am nächsten Abend schaltete ich wieder einmal das Radio an. Ich konnte es nicht länger als einen Tag ohne Radio aushalten, aber ich holte es zu diesem roten Kanapee, ich klebte fast mit dem Ohr daran, um zu verhindern, dass die Geräusche nach außen drangen. Es war eine tiefschwarze Nacht, kein Mond und kein Licht. Ich weiß noch, dass ich dem Lied »Die Liebe und die Jugend« von Muhammad Abdulwahhâb lauschte, als der Strom ausfiel. Meine Mutter jammerte, dass uns das in so einer Nacht gerade noch gefehlt habe. Es herrschte vollkommene Stille im Viertel und im ganzen Ort; nach zwei elenden Tagen und einer Nacht, in der niemand ein Auge zugetan hatte. Es war höchste Zeit, dass die Anspannung wich. Die Menschen glichen Langstreckenläufern, die sich nach einem aufreibenden Wettbewerb vollkommen erschöpft auf den Boden werfen, um Luft zu holen. Wir selbst waren am wenigsten betroffen. Wir hatten keine Verwandten unter den Getöteten, auch wenn wir viele von ihnen kannten, den Schneider Farîd Badawi al-Samaani beispielsweise, ein hübscher Junge, den mein Vater immer aufgezogen hatte, weil er stets solch ein mysteriöses Lächeln aufsetzte. Und wir kannten Jûssef al-Kfûri, Ihren armen Vater, der das Leben und die abendliche Geselligkeit liebte … Er hat auch die Frauen geliebt; Kâmleh wusste das, aber sie hat sich nie beklagt.
Ich habe also dagesessen, als ganz unvermittelt der Strom ausgefallen ist und das Radio aufgehört hat zu spielen. Gottergeben habe ich in der Dunkelheit gehockt und geraucht. Es war eine seltene Stille, durchbrochen nur vom Quaken der Frösche in Flussnähe. Bis auf das Leuchten der Glühwürmchen war es stockfinster. Ich weiß noch, dass ich nach dem
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