Morgen des Zorns
Mann hatte tatsächlich nichts mehr gesagt. Er wartete auf etwas anderes. Er drehte dem Laden den Rücken zu und blickte auf die menschenleere Hauptstraße. Vielleicht wusste er nicht, welchen Schritt er als nächstes unternehmen sollte.
In der Hand hielt er eine Liste mit Namen. Ausschließlich Namen von Frauen. Er blickte darauf, als verabscheute er die Aufgabe, die man ihm aufgetragen hatte. Hesnehs Name stand ganz oben auf der Liste.
Der Mann mit dem Gewehr lächelte. Als er den Namen vorlas und uns die Liste vorlegte, wurden seine Zähne sichtbar: Hesneh, Ehefrau des Abbûd Hesneh.
Ich glaubte nicht daran, dass Hesneh in diesem Moment den Jungen stillte. Eher war sie dabei, das Mittagessen zu planen. Sieben Mäuler, und dazu noch ich. Sie verköstigten mich manchmal, besonders an Tagen, an denen gekämpft wurde und es nicht ratsam war, hin- und herzulaufen, nachmittags nach Hause und dann wieder zurück zur Schusterei. Ein unnötiges Risiko. Hesnehs Essen schmeckte gut, und ich dachte, sie würde sich am Ende bestimmt für eine »einfache« Lösung entscheiden: ein Gericht aus Linsen und Weizengrütze, Bällchen aus Kichererbsenmus und frittierte Kartoffeln mit Zwiebeln. Es war Freitag. Vor den Ereignissen hatte sie freitags gewöhnlich Fisch gekauft, doch die Fischverkäufer brachten keine Körbe mit frischer Ware mehr vom Hafen.
Wann immer Abbûd nach Hesneh gefragt wurde, erwiderte er, dass sie den Jungen stille. Als ob der Junge niemals aufhören würde zu trinken; oder als hoffte Abbûd dies zumindest, damit er rasch wuchs. Er war noch nicht einmal vier Monate alt, doch Abbûd wollte sie nicht abstillen lassen, bis der Junge anfangen würde zu laufen. Er würde laufen und von der Brust seiner Mutter trinken, er würde herumtoben und mit seinen Freunden spielen und dann zur Mutterbrust zurückkehren. Abbûds Mutter hatte ihm erzählt, dass er es als Kleinkind genauso gemacht hatte.
Sie hatten ihn Raûf genannt.
Sein erster Sohn … Und aller Wahrscheinlichkeit nach sein letzter. Nach vier Mädchen. Am dem Tag, als sie ihm die frohe Botschaft verkündet hatten, hatte er an die Tür seines Nachbarn geklopft und ihn gebeten, ihm sein Gewehr zu leihen. Er hatte sieben Schüsse abgegeben und ihm das Gewehr dann zurückgebracht.
Wenn der Kleine schrie, hörte er es nicht, doch er erteilte den Frauen unaufhörlich Befehle. Den beiden großen Mädchen und der Mutter.
– Nimm ihn auf den Arm!
– Geh ein bisschen in die Sonne mit ihm!
– Wechsel ihm die Windeln!
Eine Nervensäge, niemals konnte er seinen einzigen Sohn betrachten, ohne etwas zu finden, das für diesen getan werden musste.
In seiner Familie kehrte er den starken Mann heraus, doch jetzt saß er regungslos auf seinem Schuhmacherstuhl. Angesichts dieses Bewaffneten, der sich nach seiner Frau erkundigt hatte und nun wartend in der Tür stand, rührte er sich nicht.
Er schob seine Taubheit vor. Er war taub – oder fast taub. Vielleicht war er der berühmteste Taube im ganzen Ort. Man hat mir erzählt, dass er sich erst sehr spät dazu hat überreden lassen, ein Hörgerät zu benutzen. Ich hatte die Arbeit bei ihm bereits aufgegeben und mich mit einem eigenen Laden selbständig gemacht. Erst wenige Jahre vor seinem Tod sollte er sich ein Hörgerät anschaffen, doch weil es ein ständiges Zischen und dann ganz unvermittelt ein Pfeifen von sich gab, konnte er es nicht länger als einige Minuten ertragen. Deshalb zog er dem Hörgerät die Stille der Taubheit und seine gewohnte Isolation vor.
Trotzdem unterstellte man ihm, zu hören, was er hören wolle.
Zumindest hatte er diesen Ruf.
Und ich glaube, sie hatten recht.
Sie stellten ihn auf die Probe.
Sie beschimpften ihn in verhaltenem Ton, und er antwortete mit einer noch schlimmeren Beschimpfung.
Er wusste schon damals, wann man ihn beleidigte, selbst wenn er niemanden sprechen hörte. Er musste nur ein bestimmtes Lächeln auf meiner Miene sehen, und schon war ihm klar, dass der Anwesende über ihn spottete. Dann entgegnete er etwas, das er als Selbstverteidigung für angemessen empfand.
Plötzlich drehte sich der Mann mit dem Gewehr erneut zur Ladentür und sagte:
– Man verlangt nach ihr!
Mit der Hand zeigte er an einen unbestimmten Ort im Osten.
Nicht er verlangte nach ihr, sondern sie, jene dort.
Obwohl er nicht lauter gesprochen hatte als vorher, hörte Abbûd ihn dieses Mal. Ich musste ihm nicht ins Ohr schreien.
Der Bewaffnete war nicht im mindesten erregt. Seine Aufgabe
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