Morgen des Zorns
Priester, die rechts vom Altar standen, beim letzten Satz des Totengebets angelangt, da brach der Schrei hervor. Aus heiterem Himmel und aus Hunderten von Kehlen, ein einziger Schrei.
Die überraschten jüngeren Leute drehten sich erschrocken um, weil sie glaubten, es sei etwas geschehen. Der neue Weihrauchfassträger riss die Augen auf, er war kaum noch in der Lage, das Fass zu halten. Die Älteren aber wussten Bescheid. Selbst jene, die in den vorderen Reihen unweit des Altars standen, drehten sich nicht um. Sie würden nicht zu den Frauen schauen, die sich an die Särge klammerten und sich die Seele aus dem Leib schrien. Dieses letzte Aufbäumen war nicht als Schauspiel gedacht.
Am Ende gelang es den Priestern und den Mitgliedern der Bruderschaft, die Lebenden von den Toten zu lösen. Das Oberhaupt der Familie stand, umgeben von seinen Männern, am Portal der Kirche, und jedes Mal, wenn ein Sarg vorbeigetragen wurde, neigte sich der Führer zu ihm und küsste ihn. Am Sarg seines Bruders und seines Neffen hielt er besonders lange inne. Sie transportierten sie auf den Dächern der Autos. Zwei junge Männer schoben sich aus den Autofenstern, fassten den auf dem Dach aufliegenden Sarg und riefen den Menschen zu, den Weg freizugeben. Hauptsache, die Männer waren in der Lage, den Sarg auf der abschüssigen Straße richtig festzuhalten. Es gab nicht genügend Autos, um alle mit einem Mal zum Friedhof zu transportieren, deshalb kehrten einige Wagen wieder zurück, um die restlichen Toten abzuholen.
Sie brachten sie zum Mandelhain. Die Gruben waren fertig ausgehoben. Eine gerade Reihe, als hätte ein Experte im Pflanzen von Bäumen sie angelegt. Von Oliven- und Orangenbäumen, die wie Soldaten in Reih und Glied stehen. Irgendjemand war früh aufgestanden, um die Erde aufzugraben, die die Toten empfangen würde. Eine Grube für jeden einzelnen, es würde Erde über ihn geschüttet werden, und das war’s. Bis heute liegen sie dort. In einer Erde, die sich im Besitz des Klosters befindet. Sie hatten den Mandelhain als Begräbnisstätte ausgewählt, weil der Friedhof des Ortes im Viertel der Râmi-Familie lag. Dorthin zu gelangen, um ihre Toten zu beweinen, war nicht möglich. Aber selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätten sie ihre Toten niemals dort gelassen.
Sie brachten Kâmleh zu Fuß nach Hause. Sie ging ein kleines Stück, dann hielt sie inne. Muntaha stützte sie. Immer wieder blieb sie vor einem der Häuser stehen und rief den Bewohnern zu, dass Jûssef von ihr gegangen sei und nicht mehr wiederkehre. Niemand steckte den Kopf aus der Tür, um sie zu trösten. Sie setzte ihren Weg fort. Blieb wieder stehen. »Jûssef ist gegangen«, sagte sie, an eine Frau gewandt, die auf dem Balkon ihres Hauses stand und beobachtete, wie die Menschen von der Trauerfeier zurückkehrten. Die auf dem Balkon stehende Frau hatte ihr Gesicht mit einem weißen Tuch bedeckt, sie weinte, oder wollte zumindest den Eindruck erwecken. Zu Hause angekommen, brachten sie Kâmleh hinein, damit sie sich hinlege und ausruhe.
Wie eine Wahnsinnige schrie sie aufgebracht:
– Nein, nicht ins Schlafzimmer. Dieses Zimmer werde ich nie wieder betreten, bringt mich hier raus, bringt mich hier raus …
Sie führten sie auf den Balkon, betteten sie auf eine Bank. Sie legte den Kopf neben die Dahlie, ihre Mutter setzte sich zu ihr.
Drei Schwalben kreisten über dem Balkon, die mit ihren kleinen ausgebreiteten Flügeln Linien in den Himmel zeichneten.
Es war die Saison der Schwalben.
Es war Montag, der 18. Juni 1957, gegen sieben Uhr abends.
In einer Nacht, nahe an diesem Datum, vielleicht einige Tage vorher oder nachher, saß eine andere Frau auf einem anderen Balkon, der gleichfalls mit Blumen und Pflanzen geschmückt war. Jener Balkon aber ging von einer Anhöhe auf das Mittelmeer. Die Frau hieß Lauris, mit diesem Namen unterzeichnete sie zumindest ihre Gedichte, die sie später in einem Band mit dem Titel »Kapitän des Windes« veröffentlichte. Auf dem Umschlagfoto ihres Buches trägt sie ein weißes Kleid, hat einen Strohhut auf dem Kopf und lächelt schüchtern. In einem ihrer Gedichte heißt es: »Es fällt mir schwer, dich zu verlassen, es fällt mir schwer zu leben. Das Land der Maulbeerbäume und des Weins, das Land der geheimen Quellen, der Bilder Gottes. Ein glückliches Flussbett. Nach meinem Tod werde ich mich auf die Suche nach dir begeben, in dem Beutel des Armen ein wenig von der Erde und dem Wasser, das Brot der
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