Morgen des Zorns
sich in eine Ecke zurückzogen und sie unter die Lupe nahmen. Jûssef al-Kfûri entschied sich für die Herstal Kaliber 14. Butros al-Râmi bezahlte den Preis für die Pistolen und weigerte sich, Geld von Jûssef al-Kfûri anzunehmen. Ein Geschenk von mir, sagte er. Die Lage werde sich sowieso bald wieder ändern und er möge keine Waffen, hatte Jûssef al-Kfûri gesagt.
Niemand stellte sich ihnen jetzt in den Weg, niemandem begegneten sie.
An jeder Kreuzung, bei jeder Gassenmündung verlangsamten die beiden Brüder den Schritt. Vorsorglich hoben sie ihre Pistolen, horchten, dann setzten sie ihren Weg fort.
In der letzten ruhigen Nacht, der Nacht von Montag, dem 18. Juni 1957, krönte einer der Auswanderer aus dem Ort ein langes Leben der Mühsal damit, dass er am Vormittag ebendieses Tages – und vielleicht in Anbetracht des Zeitunterschieds genau in jener abendlichen Stunde – im Rahmen einer Feierlichkeit, an der sein Freund, der Tourismusminister Rafael Picabia sowie der Wirtschaftsminister und Unmengen venezuelanischer Medienvertreter teilnahmen, die Gründung einer Bank in Caracas mit seiner Unterschrift bekräftigte, der er den Namen »Orinoco« gab. Eigentlich hatte er sie »Banco de Libano« taufen wollen, doch man hatte ihm gesagt, dass dieser Name für die Menschen im Land nicht attraktiv genug sei. Er und die Mitglieder seiner Familie, seine Ehefrau und seine beiden Töchter, hielten 45 Prozent der Aktien. Nach Jahren der Plackerei. Er hatte als fliegender Hemdenhändler angefangen, dann hatte er sein eigenes Bekleidungsgeschäft eröffnet und danach eine Firma gegründet, mit der er genügend Geld verdient hatte, um die Bank zu gründen. Er hatte seinen Kindern aufgetragen, ihn in seiner Heimat beerdigen zu lassen, doch es war ihnen nicht möglich, ihn in den Libanon zu überführen, denn just an jenem Tag, an dem er in einem Krankenhaus in Caracas sein Leben aushauchte, befanden sich die Auseinandersetzungen in seinem Dorf auf ihrem Höhepunkt.
In jener Nacht schliefen die Angehörigen und Verwandten der Getöteten, um wieder zu Kräften zu kommen.
Sie schliefen, doch sie aßen nichts.
Die Männer wandten ihren Frauen den Rücken zu.
Die Männer sammelten ihre Kräfte, und die Frauen gewannen ihre Fähigkeit zurück, zu klagen und die Männer aufzuhetzen.
Und am nächsten Tag, oder allerspätestens in der nächsten Nacht, ging es los.
Kâmleh lag auf dem Balkon. Sie war allein mit ihrer Mutter. Diese hatte die Nachbarn höflich hinauskomplimentiert, sie hatte ihnen gedankt und ihnen und ihren Kindern ein langes Leben gewünscht. Sie hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass Kâmleh schlafen müsse, sonst würde sie sterben. Dann fügte sie noch hinzu: »Wir haben keine Tränen mehr, um weiter zu weinen.«
Muntaha trat als erste in die Wohnung. Mit einer Geste bedeutete sie den beiden, ihr zu folgten.
Mit großer Anteilnahme sagte die Mutter:
– Steh auf, Kâmleh, Jûssefs Freunde sind gekommen!
Kâmleh setzte sich auf. Seit sie zu Hause angekommen war, war dies ihre erste selbstbestimmte Regung.
Fuâd und Butros al-Râmi brachten kein einziges Wort heraus.
Sie gaben ihr nicht die Hand.
Wortlos setzten sie sich hin und sahen Kâmleh an. Und Kâmleh sah sie an. Sie musterten sich gegenseitig.
Sie waren ins Untere Viertel gekommen, um sie anzustarren. Sie hätten gerne an der Trauerfeier teilgenommen, doch sie hatten es nicht gewagt.
Zuerst traten Butros Tränen in die Augen, dann wurden Fuâds Augen feucht.
Butros wischte die Tränen mit einem Taschentuch ab, das er aus seiner Jacketttasche zog.
Er schneuzte sich lange.
Sehr lange und ausgiebig. Er stocherte in seiner Nase herum, als gelänge es ihm auf diese Weise, mit dem Weinen aufzuhören.
Aus Angst, die Nachbarn könnten sein Schneuzen gehört haben, sah Kâmlehs Mutter sich besorgt um.
Kâmleh wiederum begnügte sich damit, ihnen fest in die Augen zu sehen. Sie wartete auf eine Antwort, doch sie hatten keine Antwort.
Die Ähnlichkeit der beiden Brüder trat deutlich zutage. Der gebeugte Rücken beim Sitzen, die große Nase, die kleinen roten Flecken auf den Wangen, das schüttere Haar, das die Stirn freizugeben begann, und die Härchen, die ihnen aus den Ohren wuchsen. Fuâd war der jüngere, doch mit der Zeit war der Altersunterschied verblasst. Sie wirkten wie Zwillinge.
Das Schweigen der Trauerrunde dauerte an, als wäre das Sprechen bei Beileidsbesuchen unangebracht.
Am Ende war es Muntaha, die das Schweigen brach. Sie
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