Morgen des Zorns
die gefallen waren, und die, die noch fallen würden.
Das Brot, das waren die Gebete, die für sie alle gesprochen wurden, ein jeder trug sie als Proviant um den Hals, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.
Dort würden sie ihn aus ihrem Beutel nehmen und es dem auf seinem Thron sitzenden Gott anbieten.
Es war der gleiche Gott, der über dem Altar in der Kirche vom heiligen Johannes dem Täufer hing.
Kâmlehs Mutter weckte sie.
Sie hatte nicht geklopft, die Tür hatte offen gestanden. Sie war einfach in ihr Wohnzimmer eingedrungen.
Sie rüttelte sie an der Schulter.
– Steh auf! Wir haben niemanden außer dir.
Muntaha verstand nicht, was sie meinte. Sie wollte ihr schon sagen, sie habe doch schließlich zwei Töchter, die sie um Hilfe bitten könne. Eine war hier verheiratet, in einem der nahe gelegenen Dörfer, die konnte sogar zu Fuß kommen, wenn sie es wollte. Die andere lebte weit fort. Ihr Mann liebte zwar weder uns noch unseren Ort, doch sie war immerhin aus Beirut hergekommen, um an der Beerdigung ihres Schwagers teilzunehmen. Ihr Mann hatte sie nicht begleitet und ihr befohlen, rasch zurückzukehren. Doch Kâmlehs Mutter hatte ihre beiden Töchter aus Sorge sofort wieder zu ihren Familien zurückgeschickt. Aber trotzdem, warum schickte sie nicht eine von ihnen, oder warum ging sie nicht selbst?
– Warum sprechen sie ihr denn nicht morgen oder übermorgen ihr Beileid aus? Es hat doch Zeit …
Noch im Halbschlaf stellte Muntaha nur diese eine Frage.
– Sie müssen heute Nacht kommen!
Zwei Männer der Râmi-Familie sollten ins Viertel kommen, und das in dieser Nacht?
– Kâmleh ist vollkommen am Ende, was soll sie ihnen denn sagen? Warte doch bis morgen früh, dann sehen wir, was Gott für uns bereithält.
– Heute Nacht, Muntaha, heute Nacht, wir können es nicht aufschieben.
Was immer das Kamel im Kopf haben mag …, im Kopf des Kameltreibers geht etwas anderes vor.
Sie überließ sich Gottes Willen.
Sie raffte sich auf und erhob sich.
Weder ihre Mutter noch ihren stummen Verwandten konnte sie entdecken. Niemand fragte nach jemandem in dieser Nacht.
Ein wenig verängstigt lief sie los. In ihrem Leben passierte nicht viel. Wäre da nicht diese Erschöpfung und diese Müdigkeit gewesen …
Sie würde vor ihnen herlaufen müssen, ihnen sozusagen den Weg bahnen.
Die Straßen waren menschenleer, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie im anderen Viertel ankam.
Sie saßen vor ihrem Haus, schweigend eine Zigarette nach der anderen paffend. Sie drückten sie bei der Hälfte aus, traten noch mit dem Schuh darauf. Sie hatten auf sie gewartet.
Sie kannte sie gut.
Kâmleh hatte einmal geplant, Muntaha mit Butros al-Râmi zu verheiraten. Der ältere von beiden, der Dicke, der rechts saß. Wenn er gerade keinen Zigarettenrauch ausatmete, stieß er seufzend Luft aus.
Sie saßen auf zwei Rohrstühlen.
– Was sagen die Leute bei euch im Viertel?
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
Sie fragte die beiden ihrerseits nach ihren Toten und nach dem Verlauf der Beerdigung.
Weder Muntaha entgegnete etwas noch gaben die Männer eine Antwort.
Einer der beiden wiederholte seine Frage.
Die Leute sagen ja doch, was sie wollen, sie würde ihnen jedenfalls nichts erzählen.
Nach einigem Nachdenken meinte sie vorsichtig:
– Was sollen sie denn schon sagen? Sie sind doch alle vom Weinen ganz heiser geworden.
– Was sagen sie über uns? Über mich und meinen Bruder Fuâd?
Das also wollten sie wissen. Sie wussten, was über sie gesagt wurde, das Gerede verbreitete sich schnell, besonders übles Gerede.
– Ich habe niemanden über euch sprechen gehört … Ich war die ganze Zeit mit Kâmleh beschäftigt.
– Die arme Kâmleh …
Die beiden wussten, dass Muntaha vor ihnen hergehen würde.
Ein kurzer, beschwerlicher Weg.
Mit klopfendem Herzen schritt sie voran. Den ganzen Weg über hörte sie es klopfen. Den ganzen Weg über schwiegen sie, aber Muntaha konnte in der Hand von jedem eine Pistole ausmachen. Glänzendes Eisen.
Die drei hatten wie gewöhnlich an einem Tisch im »Café Brasil« in Tripolis gesessen – die beiden Brüder und Jûssef al-Kfûri –, als sich der Waffenhändler zu ihnen gesellte. Er erzählte ihnen von einer »Lieferung« Pistolen, die er hatte ergattern können. Sie spendierten ihm eine Tasse Kaffee und plauderten mit ihm, dann bestellten sie drei Waffen, die er ihnen schon am nächsten Tag aushändigte. In einer Tüte brachte er sie zum gleichen Café, wo sie
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