Morgen des Zorns
al-Hawa getötet worden war. Der Mann hieß Helâl, aber man nannte ihn »der Stutzer«, aus Gründen, nach denen ich nie gefragt hatte. Sein getöteter Bruder hatte Nâsîf geheißen. Seit wir hier waren, quatschte er mir fast ununterbrochen die Ohren voll, und alle meine Versuche, mich ihm zu entziehen, blieben vergeblich.
Immer noch trudelten Leute ein, die Schlange reichte bereits bis auf die Hauptstraße, bis hinter die Statue des Unbekannten Soldaten am Eingang zur Hauptkaserne. Die Statue war aus Stein gehauen und zeigte einen Soldaten mit hochgereckter Flagge. An der Seite war eine Platte angebracht, auf der die Namen der in Ausübung ihrer Pflicht Gefallenen aufgeführt waren. Derjenige, der die Namen in die Platte gemeißelt hatte, hatte sich weder an eine alphabetische noch an eine chronologische Reihenfolge gehalten. Er hatte stattdessen alle erdenkliche Mühe darauf verwendet, die Anordnung so zu gestalten, dass sich die christlichen und die muslimischen Namen abwechselten: Hauptfeldwebel Butros Mansûr Sâba, Feldwebel Mahmûd Ismaîl al-Qaafarâni, Gefreiter Mûsa Dschabraîl Tûma, Soldat Mustafa al-Asaad und so weiter und so fort. Die Anzahl der Muslime überstieg die der Christen, so dass am Ende der Liste die Namen dreier muslimischer Soldaten hintereinander zu stehen kamen.
Mein Bruder und ich waren jeder für sich gekommen. Wir wollten nicht gemeinsam erscheinen und die Blicke auf uns ziehen. Er stand einige Meter vor mir in der Schlange. So waren wir, in allen Dingen. Mein Bruder war schneller, wenn es um Taten ging, ich war schneller beim Denken. Ich entdeckte auch die Frau meines Onkels in der Schlange, noch vor meinem Bruder. Sie stand vor uns, zu Recht meiner Meinung nach, denn sie war früh zur Kaserne hinuntergegangen. Ich versuchte ihren Blicken zu entgehen. Sie hielt zweifellos Ausschau nach uns, nach mir und meinem Bruder, aber sie sah uns nicht. Sie würde das kleine Gebäude betreten und es durch die Hintertür wieder verlassen. So sollte es zumindest geschehen, wenn es nach mir ginge. Sie dort und wir hier.
Eine füllige, schwarz gekleidete Frau stand in der Schlange genau vor mir. Ich kannte sie nicht, hatte sie vorher noch nie in unserem Viertel gesehen, und sie gehörte ganz sicher nicht zu unserer Verwandtschaft. Alle Frauen, die in der Schlange standen, trugen Schwarz. Komplett Schwarz. Den Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen und den Getöteten konnte man an den dicken schwarzen Strümpfen erkennen, die sie bei dieser Hitze angezogen hatten, sowie an ihrem Kopftuch. Strumpflose Beine standen für eine Verwandtschaft zweiten Grades. Oder auch dafür, dass seit dem Tod genügend Zeit verstrichen war, um die äußeren Anzeichen der Trauer etwas abmildern zu können. Die Frau meines Onkels trug tiefes Schwarz und hatte ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden. Sie wollte zu den Witwen der Opfer gerechnet werden. Eigentlich hätte sie weniger Trauer zeigen müssen, denn mein Onkel war bereits vor mehr als einem Jahr in vorgerücktem Alter gestorben.
Ich entdeckte vorne eine Frau, die nur etwa vier oder fünf Personen von dem Wächter des kleinen Gebäudes trennten. Sie trug ein grünes Kleid. Sie war die einzige Frau, die nicht schwarz gekleidet war, und sie blickte sich erstaunt um, als habe sie dies gerade erst bemerkt. Sie drehte den Kopf, um das Ende der bis auf die Hauptstraße reichenden Schlange auszumachen. Ich glaube, sie lebte nicht im Ort. Man hatte ihr gesagt, sie solle kommen, und so war sie erschienen. Möglicherweise kam sie aus Beirut. Ich hätte mich bei dem Stutzer nach ihr erkundigen können, unterließ es jedoch, weil ich befürchtete, er würde mich wieder mit ununterbrochenem Gerede überschütten.
Der Anteil der Frauen und der Männer war etwa gleich, vielleicht waren die Frauen ein wenig in der Überzahl. Alle Angehörigen waren gekommen. Abgesehen von denen, die jemanden in der Verwandtschaft hatten, der vor den Ereignissen nach Australien geflohen war. In diesem Fall schickte der Auswanderer eine Entschädigung an einen seiner Verwandten. Kâmleh, die Witwe von Jûssef al-Kfûri, war nicht zur Kaserne heruntergekommen. Man erzählte uns später, dass sie die einzige Frau gewesen war, die sich geweigert hatte, bei der Michel-Hlâjel-Kaserne zu erscheinen. Sie habe gesagt, sie wolle kein Geld als Gegenleistung für ihren Mann. Sie meinte, wir verkauften unsere Toten für Geld. Sie tat sich damit keinen Gefallen, dass sie so redete, denn die Leute erzählten
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