Morgen des Zorns
viel über die Kâmleh. Alle wussten, dass sie nach dem Tod ihres Mannes einen Sohn geboren hatte. Mehr als neun Monate nach dessen Tod. Die Leute hatten eben nichts zu tun. Sie beobachteten, rechneten, zählten an den Fingern ab und warteten nur darauf, andere zu kompromittieren.
Die dicke Frau vor mir versuchte mit irgendjemandem ins Gespräch zu kommen. Sie war beunruhigt. Sie schaute nach vorn und nach hinten, entdeckte aber kein vertrautes Gesicht. Es war mir unmöglich, auf sie einzugehen und mit ihr zu reden, weil der Stutzer beinahe pausenlos von hinten auf mich einquasselte und ich nicht zwei Gespräche gleichzeitig führen konnte. Der Stutzer hielt immer nur kurz inne, um seine laufende Nase hochzuziehen. Ich suchte nach einem Taschentuch, das ich ihm zum Schneuzen geben könnte, fand aber keins und überlegte, ihm ein Stück von meiner Papiertüte abzureißen, damit diese ununterbrochene Belästigung endlich ein Ende habe.
Plötzlich begann die dicke Frau lauthals vor sich hin zu klagen. Ohne jemanden anzusehen, redete sie drauflos. Sie habe ihren Ausweis nicht gefunden. Sie war zur Kaserne heruntergekommen, ohne etwas bei sich zu haben, womit sie sich ausweisen konnte. Der Angestellte der öffentlichen Sicherheit, der alle zu Hause aufgesucht hatte, hatte zu uns gesagt: »Geht am Samstagvormittag zur Michel-Hlâjel-Kaserne in Kubba hinunter und nehmt eure Ausweise mit.« Wir hatten allerdings nicht abgewartet, bis es »Vormittag« wurde, sondern waren bereits mit der ersten Morgendämmerung zur Kaserne geströmt. Wir waren sogar noch vor der aus Beirut kommenden »Kommission« eingetroffen. Der Angestellte der öffentlichen Sicherheit verlangte nicht mehr als die Ausweise. Aber die Dicke hatte ihn verloren. Sie war heute früh aufgewacht und hatte das Haus bereits zum dritten Mal auf den Kopf gestellt. Sie hatte den Ausweis seit den letzten Wahlen nicht gebraucht. Ich habe noch nie verstanden, wie manche Menschen so laut mit sich selbst reden können. Als sie den Verlust ihres Ausweises bemerkte, hatte sie den Beamten in der Einwohnermeldebehörde aufgesucht, um einen neuen zu beantragen, doch der hatte nur gesagt, dass so etwas Zeit brauche. Schließlich beruhigte sie sich ein wenig und sagte sich, dass sie bestimmt jemanden finden werde, der sie identifizieren könne:
– Meine Schwester ist hier und ihre Töchter auch, aber ich kann sie nicht finden. Vielleicht sind sie ja auch noch nicht da! Wenn die mich mit leeren Händen nach Hause schicken, mach ich denen die Hölle heiß!
Plötzlich entdeckte sie am Ende der Schlange einen ihrer Verwandten. Sie grüßte lautstark, als hätte sie ihn seit Ewigkeiten nicht gesehen, nur um sich zu vergewissern, dass jemand da war, der sie kannte und in der Lage war, sie zu identifizieren.
Ich hatte nicht zur Michel-Hlâjel-Kaserne in Kubba kommen wollen, aber mein Bruder hatte mich mit einem ganz simplen Argument überzeugt:
– Wenn du das Geld nicht nimmst, das dir zusteht, dann nehmen sie es.
Mit »sie« meinte er die Kommission oder die uns unbekannten Verantwortlichen. Sie würden es nehmen und in die eigene Tasche stecken.
Und er hatte hinzugesetzt:
– Nur Mut, fass dir ein Herz, außer mir und dir wird niemand davon erfahren …
In Wahrheit war mein Problem nicht der Mut gewesen. Ich hatte an die Frau meines Onkels gedacht. Ich glaube, sie kannte unser Haus nicht, jedenfalls hatte sie uns noch nie dort besucht. Zwischen uns herrschte ein Krieg wie der von Dâhis und al-Gharbâ. 4 Wir hatten geglaubt, dass mein Onkel uns geliebt und sie ihn gegen uns aufgehetzt hatte. Ich kann mich noch daran erinnern, wie er immer darauf gewartet hatte, dass sie ihm den Rücken zudreht, um uns dann mit der Aufforderung, es vor ihr geheim zu halten, Geld zuzustecken. Der Geruch arabischen Tabaks ging von ihm aus, wenn er uns auf die Stirn küsste. Wir waren noch klein, und er liebte uns. Wir waren die Kinder seines Bruders, also wie seine eigenen Kinder, pflegte er zu sagen, während ich fast an dem in seinem Jackett nistenden Tabakgeruch erstickte.
– Sie wollen dich beerben, obwohl du noch am Leben bist …
So hatte sie ihren persönlichen Krieg gegen uns überschrieben. Unsere Antwort war unmissverständlich. Warum hatte sie ihm denn keine eigenen Kinder geboren, die ihn beerben würden?
– Wir werden nicht zulassen, dass du unseren Besitz mit zu deiner Familie nimmst!, sagten wir zu ihr.
Hätte mein Onkel Augen im Kopf gehabt, dann hätte er sich nicht so
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