Morgen des Zorns
eine Frau »geangelt«.
Aber ihr Einfluss auf ihn war stärker als unserer. Er liebte das Essen, und sie drohte ihm, nichts zu kochen, wenn er uns entgegenkomme. Er liebte scharfen Fisch, Innereien und Weinblätter, deren Zubereitung sie meisterhaft beherrschte. Auf jeden Fall hätte sie ihn mit diesem ganzen Essen früher oder später sowieso umgebracht. Einmal, nur ein einziges Mal, hatte sie uns zum Essen eingeladen. Verdammt noch mal, ihr Essen schmeckte wirklich gut! Am Ende hatte sie ihm sogar verboten, uns zu besuchen, und die Feindschaft so weit getrieben, dass er schließlich sagte:
– Wenn ich sterbe, möchte ich nicht, dass sie in meinem Beerdigungszug mitgehen.
So hatten es uns die Leute erzählt, die es wiederum von ihr gehört hatten. Er habe nicht gewollt, dass wir, mein Bruder, meine Mutter und ich, seiner Beerdigung beiwohnten! Dass er das wirklich gesagt haben sollte, konnte ich einfach nicht glauben.
Und nun standen wir in der Schlange vor der Militärkaserne, nur weil wir die Söhne seines Bruders waren. Meine Mutter hatte mir gegen meinen Willen in einen Brotfladen eingerollte Käsebällchen und Oliven mitgegeben, was sie wiederum in ein Stück Papier eingewickelt hatte. Fast hätte ich das Papier dem Stutzer gegeben, damit er mich und sich von seiner Schnieferei erlöse. Meine Mutter hatte Angst, dass mich der Hunger überkommt, sollte sich die Warterei in die Länge ziehen. »Du hältst Hunger nicht aus«, hatte sie zu mir gesagt. Meine Mutter kannte mich, ich konnte Hunger nicht ertragen, aber es war mir peinlich, mit dem Papier und dem Käsebällchen da zu stehen, dessen Geruch sich schon auszubreiten begann, und ich war beunruhigt wegen der Frau meines Onkels, die vor Ärger tot umfallen würde, wenn sie uns in der Schlange entdeckte.
Ich versuchte mich so gut es ging hinter der dicken Frau zu verstecken, aber weil sie so klein war, blieb mein Kopf doch sichtbar. Die Sonne brannte uns mittlerweile auf den Scheitel, und es ging nur langsam vorwärts. Wir waren begierig darauf zu erfahren, was genau in dem kleinen Gebäude vor sich ging. Obgleich diejenigen, die das Gebäude verließen, nicht mit den vorne Wartenden zusammentrafen, fanden die Nachrichten schließlich ihren Weg, diesmal jedoch von hinten nach vorne. Manche, die das Haus durch die Hintertür verlassen hatten, waren zum Ende der Schlange zurückgekehrt und zeigten den anderen nun, was sie bekommen hatten. Viele hielten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Bankscheck in Händen. Im ersten Augenblick verstanden wir nicht, nach welchem System sie das Geld verteilten, denn die Anteile waren nicht gleich groß. Schließlich begriffen wir, dass die Höhe der Entschädigung den Erbteilen der Hinterbliebenen entsprach.
Ehrlich gesagt, schämte ich mich vor mir selbst und versuchte, den Blicken der Menschen zu entgehen, die ich kannte und von denen ich wusste, was sie denken würden, wenn sie mich und meinen Bruder hier sahen. Mein Bruder scherte sich wahrscheinlich nicht darum, ich hatte beobachtet, wie er lachend mit den anderen in der Schlange stand. Sie machten eine Bestandsaufname über das Erbe eines jeden von ihnen, ohne Ausnahme. Alle waren gekommen. Der halbe Ort war hier. Der Stutzer warf einen Blick in die Runde und wandte sich dann an mich:
– Siehst du diese Frau dort gegenüber von dem Soldaten mit der Brille. Mein Bruder Nâsîf war es gewesen, der ihren Mann getötet hat. Er hat ihn überrascht, seine Verwandten haben ihm keine Rückendeckung gegeben … Ohne meinen Bruder Nâsîf wären wir zum Gespött der Leute in Burdsch al-Hawa geworden.
Sie hatten uns in einer einzigen Schlange vor der Kaserne zusammenkommen lassen. Es war das erste Mal, dass wir uns nach den Ereignissen wieder begegneten. Damals, vor zwei Jahren, als der Staat seine Autorität hatte walten lassen und Männer beider Seiten verhaftet hatte, Schuldige wie Unschuldige, hatten sie die Samaani-Familie ins Gefängnis von Kubba und die Râmi-Familie in das Gefängnis der Kaserne des Emir Baschîr in Beirut gesteckt. Damals hatten sie uns getrennt untergebracht. Aber dieses Mal ließen sie uns zusammenkommen und in einer Schlange stehen.
Abu Dschamîl ging an mir vorüber und legte mir die Hand auf die Schulter. Die Art, wie er mich anschaute, vermittelte mir das Gefühl, dass er mich noch immer mochte, genau wie damals, als er in unserem Viertel gewohnt hatte. Bevor er geflohen war und Angehörige meiner Familie sein Haus besetzten.
– Richte
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