Morgen des Zorns
nicht weiß, in wessen Ohren seine Worte fallen werden.
– Der Sohn von Jûssef Farîd Michaîl al-Kfûri.
Eine erschöpfende Antwort, die vier Generationen umfasst. Der Mann erkennt ihn, er ist erleichtert. Seine Miene entspannt sich.
– Sind Sie der Sohn von Kâmleh?
– Ich bin der Sohn von Kâmleh.
Er umarmt ihn, er kennt ihn, seit der Kindheit, er vergisst die Frage und erkundigt sich, was er so treibt. Elia versucht es von neuem, da zeigt der Mann mit der Hand nach rechts und nach links.
– Sie haben sich auf dem Dach der Olivenpresse verschanzt … dort.
– Wo endet das Untere Viertel?
Der Mann wird verlegen. Er weiß, wo das Untere Viertel endet, aber er weiß nicht, wie er die Front zeigen soll. Er macht ein Zeichen mit der Hand, zieht eine gerade Linie, die durch die Häuser verläuft. Er hat Mühe zu sprechen, er hat nichts zu sagen. Er weiß, was geschehen ist, er hat es erlebt oder gehört, aber offensichtlich findet er es nutzlos, die Details erneut aufzuzählen. Er wechselt das Thema.
Elia setzt seinen Rundgang fort, einige Kinder folgen ihm, wegen des Fotoapparates und seiner über die Schulter gehängten Tasche, er erreicht den Kirchplatz. Dort muss der Rundgang zwangsläufig enden, in den feuchten Gassen. Er betritt die Liebfrauenkirche durch die Hintertür, den Eingang für die Frauen, wie in Kindertagen. Die Alte, die inmitten der Kirche kniet, die Arme gen Himmel erhoben, wirft ihm einen Blick zu. Er taucht seine Finger in das Weihwasserbecken, betrachtet die kleinen Engel, die die Jungfrau umringen, macht – in einer übertriebenen Geste – das Kreuzzeichen, kniet sich auf einen der vorderen Plätze und senkt nachdenklich den Kopf.
Er notiert in sein Heft: »In meinem Dorf stehen überall strahlend bunte Heiligenbilder und Skulpturen und kleine Wallfahrtsorte am Wegesrand. Auch die Bilder leuchten farbig, auf ihnen sind viele Details zu sehen, unzählige Tiere, der furchterregende Drache des heiligen Georg pustet eine rote Flamme aus, und die fröhlichen Hühner des Bauernhofes, die den heiligen Antonius umringen, schauen in Richtung der Betenden. Doch stets umspielt ein leichter Anflug von Trauer die Gesichter der Heiligen.«
Er kehrt zum Kaffeehaus zurück. Sie überschütten ihn mit Allgemeinheiten …
– Wir waren ein Herz und eine Seele, sagt einer von ihnen.
Der Mann, der Luca Brasi aus dem Film »Der Pate« ähnelt, richtet seine Worte so unvermittelt an ihn, als setze er ein früheres Gespräch fort:
– Wir sind zusammen angekommen, im selben Auto, Ihr Vater und ich, im Taxi, der Fahrer machte kehrt, und wir blieben oben, die Rückkehr wollten wir gemeinsam mit einigen Freunden organisieren. Wir gingen nicht Richtung Kirche, sondern blieben an der Tür eines Ladens stehen, auf dem Platz, wir wollten nicht hineingehen, Ihr Vater ertrug keine Trauerfeiern. Während des Gebets blieben wir draußen vor der Kirche stehen, und als die Trauerfeier zu Ende war, kamen wir näher, um unser Beileid auszusprechen. Es war heiß, jeder von uns trank gerade eine Flasche Coca-Cola, als wir die ersten Schüsse hörten. Als die Schüsse niederprasselten, habe ich ihn verloren, ich habe nie erfahren, wie er verschwunden ist …
Er wirft die Worte hin wie Futter. Natürlich weiß er noch andere Dinge. Er wird sie ihm vielleicht mitteilen, aber nicht im Kaffeehaus, vor den Ohren der anderen.
Elia ist für ein paar Stunden fort von zu Hause, und als er zurückkommt, stellt er fest, dass Kâmleh seine Abwesenheit dazu genutzt hat, um alles wieder an seinen Platz zu stellen. Man könnte meinen, sie hätte während seiner Anwesenheit im Haus jede seiner Bewegungen und jedes von ihm verursachte Durcheinander registriert, denn sobald er mit seiner Tasche die wenigen Stufen hinuntersteigt, die das Haus von der Hauptstraße trennen, schließt sie jedes Fenster, das er geöffnet hat, öffnet jede Tür, die er im Haus geschlossen hat, und setzt jede mit einem Bild von »Romeo und Julia« verzierte chinesische Teetasse, die er auf den Tisch gestellt hat, an ihren Platz zurück. Den Vorhang öffnet sie wieder halb. Elia hat sich nach seiner Ankunft sogleich einen Stuhl gewählt, von dem aus er täglich durch das Fenster die Berge und die Wolken am hohen Horizont betrachtet, doch dieser Anblick wird linker Hand durch ein düsteres Gebäude gestört, weshalb er jedes Mal, wenn er sich dort hinsetzt, den Vorhang ein wenig zuzieht, um den Ausblick auf die Natur zu beschränken. Und jeden Tag, wenn er
Weitere Kostenlose Bücher