Morgen des Zorns
Last für seine Familie. Aber zwei Tage später ist er ganz kleinlaut wiederaufgetaucht. Er hat angefangen, Ammenmärchen zu erzählen, über sich selbst und über die anderen, die er mitten im Kampfgetümmel im Stich gelassen hat …
Sie ereifert sich, doch plötzlich beruhigt sie sich wieder und kehrt zum eigentlichen Thema zurück:
– Dein Vater wurde vor dreiundvierzig Jahren getötet. Was willst du?
Er lächelt.
Seit er gekommen ist, hat er seine Mutter mit Lächeln überhäuft.
V
Das Geräusch kam von draußen, von vor der Tür.
Ein hartes Geräusch.
Meine Mutter ist seltsam, viele Dinge hat sie uns gelehrt. Und bis heute bringt sie uns vieles bei.
Sie hat uns zum Beispiel geheißen, die Erwachsenen mit Handschlag zu begrüßen und es nicht zuzulassen, dass sie uns an den Schultern anfassten oder liebevoll mit ihren Händen über unsere Gesichter strichen. Auch durften wir niemandem unsere Wangen hinstrecken, um sie küssen zu lassen.
Sie hat uns gelehrt, das Licht in den Räumen zu löschen, die wir verlassen, und, nachdem wir das Haus betreten haben, die Haustür hinter uns zu schließen. Sie war die einzige im Viertel, die die Tür ihres Hauses schloss.
Das ist doch ein Haus hier, hat sie immer gesagt.
Vater war gerade beim Rasieren, er genoss gewöhnlich jede Handbewegung dabei, er nahm sich Zeit, er stellte den überflüssigen Härchen in seiner Nase nach, ohne aber den Schnurrbart anzutasten. Alles was er machte, machte er gut.
Vater vernahm die Rufe des Mannes nicht.
Es war ein Sonntag gewesen. Etwa Mitte Juni. Jeder Tag hatte seine festen Regeln im Kalender meiner Mutter bezüglich unserer Erziehung. Sauber angezogen, standen wir bereit, warteten auf Vater und verteilten schon vorab die Sitzplätze im Fond des blauen Chevrolets.
So verliefen die Sonntage im Frühling. Schon im Voraus stellten wir uns vor, wie er, den Kopf leicht nach links geneigt, das Auto steuern und wie er bei den engen Kurven pfeifen würde. Immer wenn er pfiff, lachten wir verstohlen, meine Schwester und ich, und zwinkerten uns zu. Sonntags besuchten wir die Kadîscha-Grotte, berührten die von der Decke herabhängenden Stalaktiten, riefen uns gegenseitig etwas zu und warteten auf das Echo aus den tiefsten Tiefen der Höhle, speisten im Restaurant zu Mittag, wo mein Vater stets ein Glas Arrak zum Essen bestellte. Für unser Foto, auf dem wir vier der Größe nach aufgestellt zu sehen sind, brachten wir einen aus Zedernholz gefertigten Rahmen mit. Zwei Mädchen, danach ein Junge, und noch ein Junge, damit der erste nicht allein ist, wie Vater zu sagen pflegte.
Der Mann rief noch einmal. Lauter. Wir konnten ihn hören. Statt an die Tür zu klopfen, rief er.
Seltsam. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass viele unserer Gäste, statt zu klopfen, von draußen riefen, wenn sie die Tür verschlossen fanden. Vielleicht aus Protest, weil unsere Haustür immer zu war.
Mutter stand vor dem Spiegel, um ein letztes Mal Lippenstift aufzulegen und die Haut um ihre schönen Augen herum einer Prüfung zu unterziehen. Mutter sorgte sich um die Fältchen. Den geöffneten Mund leicht gespitzt und den Zeigefinger an die Lippen gelegt, drehte sie sich zu uns um und gab uns zu verstehen, dass wir nicht antworten und uns mucksmäuschenstill verhalten sollten. Vielleicht ginge der Mann, der da draußen rief, ja wieder fort.
Sie fürchtete um das Sonntagsprogramm, das sie uns versprochen hatte; sie hatte Angst vor den Programmen der Männer.
Endlich erschien Vater, mit all seinen Utensilien. Das Rasiermesser in der Hand, das Handtuch über der Schulter, eine Hälfte des Gesichts von Seife bedeckt. Er trug nur sein weißes Unterhemd, das »Baumwollhemd«, wie wir es zu nennen pflegten.
– Wer ist da?
– Wir.
Zwei Stimmen. Zwei Männer.
Unsere Verwandten verzeihen meiner Mutter nicht, dass sie eine Fremde ist, sie haben kein Verständnis, weder sehen sie ihr ihren Dialekt nach, noch ihre Art zu kochen, noch ihr Beharren auf roten Lippen und ihre Eleganz. Sie ist doch verheiratet, wozu also rote Lippen? Genauso wenig verzeihen sie ihr, dass sie die Haustür schließt. Es kommt ihnen vor, als werfe sie sie ihnen vor der Nase zu.
Auch die beiden Männer steckten in Sonntagskleidung. Soweit es ging.
Das heißt, der Dicke mit dem dünnen Schnurrbart, den wir kannten und der Ajjûb hieß, trug einen grauen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte; und auf dem weißen, über der Brust geöffneten Hemd hatte der Schweiß bereits
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