Morgen des Zorns
sich nach seiner Rückkehr wieder dort niederlässt und durch das Fenster schaut, erblickt er das Gebäude mit den verblassten abscheulichen Farben, das schon wieder den Ausblick verschandelt. Und so fällt ihm auf, dass sie die Gardine wieder genau auf die übliche Breite gezogen hat. Sein Foto, auf dem ihn jemand, mit tränenschweren Augen und in der Kleidung eines maronitischen Patriarchen, am Palmsonntag auf den Schultern trägt und das er zwecks Betrachtung heruntergenommen hat, hängt sie zurück an die Wand seines Schlafzimmers, selbst wenn es sie viel Zeit und Mühe kostet, ihren Körper zu strecken, um nach dem Nagel zu tasten und das Bild daran zu befestigen. Sie kennt ihr Haus auswendig und kommt erst zur Ruhe, wenn sie sicher sein kann, dass alles so ist, wie es sein soll, genau so, wie es all die Jahre war, während sie alleine wohnte, ohne dass ihr auch nur ein einziges Mal ein Fehler unterlaufen wäre. Und wenn er abends heimkommt und die Haustür zumacht, ohne sie abzuschließen, tut sie kein Auge zu, sondern wartet, bis er das Schlafzimmer betreten hat, um aufzustehen, langsam zur Tür zu gehen und den Schlüssel zweimal ganz umzudrehen, sie versucht sogar, ihn noch ein drittes Mal zu drehen, bis Eisen an Eisen schlägt, und erst dann schläft sie ein.
Gleich nach seiner Ankunft hat er heimlich die Schubladen geöffnet, die der seltenen Benutzung wegen ein knarzendes Geräusch von sich gaben, er hat den Schrank geöffnet und lediglich ihre und seine Kleidung aus der Zeit vor seiner Abreise gefunden, als sie zusammen im Haus wohnten. Kein Bild seines Vaters, das an der Wand hängt, obwohl die Wände voller Bilder sind, keine Schuhe, keine Krawatte. Er sucht nach seinem Vater und findet seine eigenen Spuren. Seine Mutter hat nichts weggeworfen, was ihm gehörte, den Schulkittel, Bücher, Spielzeug und … das Akkordeon. Sie ist stolz auf ihre Sammlung. Seine erste Wiege, in die sie jetzt Blumen und andere Pflanzen gesetzt hat, die Schulzeugnisse sowie der auf einem Bein stehende glänzende Metallvogel, den er bei einem französischen Gedichtwettbewerb gewonnen hat.
Er geht hinaus aus dem Dorf, dorthin, wohin er seine lausbübischen Kameraden begleitet hatte. Er notiert in sein Heft: »Ich gehe auf einem Pfad von roter Erde, der sich zwischen den uralten Olivenbäumen hindurchschlängelt, deren gewundene und ineinander verschlungene Äste sich mal flehentlich, mal rebellisch strecken. Gerade ritt ein Mann auf einem Esel an mir vorbei, der eigenartige Laute ausstieß, um das Tier anzutreiben oder zu zügeln, doch ich hatte den Fotoapparat nicht schnell genug parat, und so verschwand er hinter einer Biegung, ohne dass ich ein Bild von ihm machen konnte. Eine von Kopf bis Fuß in Lumpen gehüllte alte Frau sammelt trockene Zweige, vielleicht um damit Feuer zu machen. Oder sie gehört zu den armen Olivenlesern, die nach der Ernte die restlichen Oliven unter den Bäumen aufsammeln. Hier erzählt man sich, dass sich der Sohn des Königs von seinem Pferd herabgebeugt habe, um eine Olive aufzuheben. Das ist lange her, denn heute bringt das Öl nur einen geringen Preis ein, die Konkurrenz ist groß, und die Ärzte raten zunehmend von dem lokalen Öl ab, da es zu viel Säure enthalte. Eine nicht enden wollende Herde Ziegen zieht vorbei, geführt von einem kaum vierzehnjährigen Hirten, der einen dicken Stock schwenkt und sich hinauf in die nahe gelegenen Berge schlägt; man hört das Klingen der Glocke am Hals des Bocks. Es ist die Jahreszeit, in der die Herden hinaufziehen, hoch in die Berge. Ein Gefühl von Vorzeitlichkeit und Vergänglichkeit gleichzeitig. Als würden sich die Dinge hier in der Zeit auftürmen, statt am Ort. Der Ort ist genau so, wie er vor Urzeiten war. Die Zeit hat keine Spuren hinterlassen. Und im Hintergrund sind die hohen Berge zu sehen, an deren Hängen Flecken von Schnee im Licht der Frühlingssonne glänzen. Dieser Ort erinnert tatsächlich an das Neue Testament, man könnte meinen, Petrus würde seinen Meister Jesus Christus bei der nächsten Wegbiegung, beim Tor zum Olivenberg, verleugnen.«
Am Abend fragt er seine Mutter:
– Sagt Iljâs al-Samaani wirklich die Wahrheit?
Sie explodiert:
– Hörst du etwa auf diesen Feigling? Er ist abgehauen, er hat seine Kameraden und Cousins im Stich gelassen, vor lauter Angst hat er sich zu Fuß in die Büsche geschlagen. Sie haben ihn aus den Augen verloren, sie dachten, dass man ihn getötet hat, ach, wäre er doch gestorben, er ist eine
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