Morgen des Zorns
kehrte er in sein Dorf zurück. Die Ereignisse hatten sich gerade beruhigt und die Menschen ihre Arbeit wiederaufgenommen. Da er bankrott war, bot er seinen neuen Besitz zum Verkauf an, um sich mit dem Geld wieder auf Reisen machen zu können. Weil er einen äußerst niedrigen Preis verlangte, fand er jemanden, der das Grundstück kaufte, ohne es lang und breit unter die Lupe zu nehmen. Da der Käufer fürchtete, er könne seine Meinung ändern, beeilte er sich mit der Zahlung und forderte, bevor der Besitz in der Immobilienzeitung offiziell an seinen neuen Besitzer überschrieben wurde, bei den Vertragsverhandlungen eine notarielle Unterschrift. Dann machte er sich ein weiteres Mal auf in Gottes weite Welt.
XV
Der Mühlstein war Muhsins Idee gewesen. Eines Tages, als man mit dem Barrikadenbau begonnen hatte, waren die jungen Männer des Viertels zusammengekommen, um den gewaltigen Mühlstein aus der benachbarten Olivenpresse auf die Straße zu rollen. Muhsin näherte sich diesem allerdings erst, nachdem sie ihn von den Olivenresten gesäubert hatten. Laut Arbeitsteilung musste ein Kämpfer sich nicht zu praktischen Arbeiten herablassen, weil er für den Dienst an der Waffe vorgesehen war. Später aber, als er während der Revolution zwischen April und September 1958 den ganzen Tag hinter seinem Mühlstein saß, konnte Muhsin es sich nicht verkneifen, die kleinen schwarzen Flecken aufzuspüren, die von den unterschiedlichsten Olivenarten daran hängen geblieben waren. Er nahm dafür sein Taschenmesser zu Hilfe, das er stets bei sich trug und dessen sieben Klingen beim Öffnen sieben verschiedene Klackgeräusche verursachten. Die Aussparung in der Mitte des Steins hatte er mit drei kleinen Sandsäcken verschlossen und nur eine einzige »Schießscharte« frei gelassen; durch die steckte er die Mündung seines kalibrierten Gewehrs mit dem langen Lauf und richtete den Blick auf die gegenüberliegenden Barrikaden. Mit dem ersten Gewehr, das man ihm gegeben hatte und das man »Modell« nannte, war er nicht zurechtgekommen.
– Es kreist nicht richtig ein, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, die Bedeutung dieses für uns neuen Verbgebrauchs zu erklären. Uns war unklar, wie er ihn hergeleitet hatte. Vielleicht hatte er die Wendung ja auch gerade in jenem Augenblick erst erfunden, als er mit dem »Modell« gezielt und nicht getroffen hatte, so dass ihm nichts anderes übriggeblieben war, als den Fehler beim Gewehr zu suchen.
Als dann, wie von ihm gefordert, etliche Gewehre mit langem Lauf zur Verfügung standen, hatten sie ihm eins gegeben und belustigt gesagt:
– Jetzt hast du aber keine Ausrede mehr!
Tatsächlich war seine Ausrüstung jetzt vollständig, nun musste er nur noch sein Können unter Beweis stellen. Wie bei einem Ritual nahm er das Gewehr zuerst einmal in die Hand, hielt es senkrecht, inspizierte es bis ins kleinste Detail und zielte damit in den Himmel. Dann ließ er sich auf seinem Stuhl hinter dem Mühlstein nieder, steckte den Lauf des Gewehrs durch die Schießscharte und beugte sich darüber. Seine Wange streichelte das Eisen. Er schloss das linke Auge und blickte durch die Kimme auf die andere Seite hinüber. Anfangs hielten wir das Ganze für eine erste Trockenübung. Wir sagten uns, der Kämpfer muss zuerst mit seiner Waffe »Maß nehmen«. Doch Muhsin bestand auf diesem Ritual. Immer wieder nahm er sich viel Zeit für diese seltsame Prozedur, die uns alsbald zu langweilen begann, weil sie zu keiner Aktion führte. Er beharrte darauf, und wir konnten einfach nicht verstehen, warum Muhsin zielte und zielte und niemals schoss. Uns fiel bloß auf, dass er stets drohend mit dem Kopf nickte, wenn seine Zielwut vorüber war. Offenbar wollte er seine große Tat immer wieder verschieben – auf eine Zeit, die vielleicht schon nah war. Doch er schien überzeugt, dass seine lange Umarmung des Gewehrs nicht ohne Nutzen bleiben würde – auch wenn das Ergebnis bislang nur in der rosaroten Kerbe bestand, die für einige Augenblicke deutlich auf seiner rechten Wange erkennbar war.
Muhsin war der Held des Mühlsteins – obwohl wir wussten, dass er sich diese Barrikade mit seinem Bruder teilte. Er tagsüber und Halîm nachts. Muhsin war unser Kämpfer an vorderster Front. Wir verfolgten seinen Krieg, wenn auch nur von weitem. Weil wir ihn inmitten der Schusslinie wähnten, trauten wir uns nicht näher an ihn heran. Um acht Uhr, genau zur Abendessenszeit, übergab er die Barrikade an seinen Bruder. Vor
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