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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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damit an langen Tagen seinen Hunger zu stillen. Unsere Rache war nicht zu übersehen. Wir stellten uns auf die Tische und pinkelten. Wir zerrissen die Klassenhefte mit den Schulnoten. Wir löschten ihre Spuren für immer aus, indem wir die Seiten anzündeten, sie in den Abfluss der Toilette warfen und spülten. Bevor wir uns zurückzogen, schlugen wir siegreich die Glocke. Das schreckte einige Leute auf, die daraufhin im Viertel zusammenliefen. Wir aber nahmen unsere Streifzüge durch die Gassen wieder auf, Ferien auf unbestimmte Zeit, bis die Revolution ein Ende haben würde. Dies war der Grund, so glaube ich, für unsere Freude über die Revolution, die mit dem Eintreffen der amerikanischen Marinesoldaten an der Küste Libanons ihr Ende fand. Wir aber hofften – und manche von uns waren sich ganz sicher –, dass die Ferien noch weiter andauern und diese Revolution so lange währen würde, bis die Schule auf immer aus unserem Leben verschwunden wäre.
    Wir inspizierten die Front, von Barrikade zu Barrikade. Wir überbrachten Nachrichten, die zu überbringen uns niemand beauftragt hatte, wir trafen uns in Muhsins Nähe, der auf seinem Korbstuhl hinter dem Mühlstein saß. Wir lugten um die Ecken der Gassen, und wenn er unser Getuschel vernahm, jagte er uns davon. Dann verstummten wir, versteckten uns und blieben, wo wir waren. Wenn er mit Einbruch der Nacht seinem Bruder die Barrikade übergab, bekamen wir es mit der Angst zu tun, weil wir fürchteten, die Feinde könnten diesen Augenblick der Unaufmerksamkeit für einen unvermuteten Angriff nutzen.
    Wir bekamen es auch mit der Angst zu tun, wenn er von seinem Stuhl aufstand, der Muhsin, und sei es auch nur für eine Minute, um seinen vom langen Sitzen eingequetschten Hoden Erleichterung zu verschaffen; dazu pflegte er die Hand tief in seine rechte Hosentasche zu schieben und das schmerzende Körperteil von einer Seite auf die andere zu bewegen. Wir bekamen es auch mit der Angst zu tun, wenn er sein Gewehr gegen den Mühlstein lehnte und langsam die Gemüsesuppe oder den heißen Joghurt zu schlürfen begann, in dem die Weizengrützenbällchen schwammen, während der Dampf aus seinem Teller aufstieg. Er pflegte auf den Löffel zu blasen und wirklich laut zu schlürfen. Je heißer das Essen, desto lauter die Geräusche, die Muhsin durch Lippen und Zähne ausstieß. Manchmal befürchteten wir sogar, das Zischen könnte bis an die Ohren der Männer der gegenüberliegenden Barrikade dringen. Dann würden sie womöglich die Gelegenheit ergreifen und auf uns schießen, während unser erster Kämpfer schlürfend sein Mittagessen zu sich nahm … Catherine brachte ihm das heiße Essen immer genau zur Mittagszeit. Wenn sie sich jedoch verspätete, brüllte er:
    – Catherine!
    Ein Ruf genügte, und schon eilte sie herbei, einmal, zweimal, um ihm alles zu bringen, was er benötigte: den Teller mit Oliven, den Salzstreuer, das Ölkännchen und den extrabreiten Fladen Brot. Und beim zweiten Mal die Bohnen mit Fleisch und Omelette. Er liebte Omelette. Er presste eine Zitrone darüber und streute roten Pfeffer darauf.
    Er hatte seiner Frau den Laden überlassen und war zum Kämpfen hinter den Mühlstein gegangen, nur etwa hundert Meter von seinem Haus und dem Geschäft entfernt. Catherine hatte sich nicht darüber beklagt, denn was nützte er schon, wie er da den ganzen Tag hinter der Ladentheke hockte. Der Mann war eher eine Bürde als alles andere. Wenn ein Kunde Kohle verlangte, schrie er:
    – Catherine!
    Dann lief sie rasch herbei, um zu bedienen, weil Muhsin sich die Hände nicht an der Kohle schmutzig machen wollte. Und wenn jemand Heizöl kaufen wollte, brüllte Muhsin:
    – Catherine !
    Denn der Geruch des Öls durfte nicht in seine sauberen Kleider dringen. Und wenn ein Käufer mit verschmutzten und zerknitterten Scheinen bezahlte, dann warf er ihm einen missbilligenden Blick zu, rümpfte die Nase und fragte:
    – Hat ein Hund darauf rumgekaut?
    Verächtlich fasste er das Geld mit den Fingerspitzen an und warf es so hastig in die Schublade, als könne er sich daran anstecken.
    Muhsin litt an keiner Krankheit, aber er fürchtete die Feuchtigkeit. Und deshalb fürchtete er die Nacht. Man riet ihm, sich ein Wolltuch um den Bauch zu gürten, um seinen Magen vor der mitternächtlichen Kälte zu schützen. Sein Bruder Halîm, der jünger war als er, konnte die nächtlichen Wachen und die Feuchtigkeit besser ertragen. In den ersten Tagen hatte Muhsin noch versucht, die

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