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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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wirklich geknickt. Nicht einmal so etwas konnte er richtig machen. »Ich glaube, ich war so um die neun Jahre alt. Aber genau weiß ich es nicht.«
    Ich konnte förmlich die Rechenmaschine in seinem Kopf sehen. »Wer war noch dabei, Jess?«, fragte er, und ein gespannter Unterton in seiner Stimme ließ mich aufhorchen. »Die ganze Familie?«
    »Ja, die ganze Familie.«
    »Auch Robbie?«
    »Ja«, antwortete ich gedehnt. »Wieso?«
    Silver schob mir das Telefon in die Hand. »Würden Sie bitte Ihre Schwester anrufen und sie fragen? Ob sie sich auch erinnert.«
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis Leigh ranging. Sie mache den Mädchen gerade Tee, ob sie mich zurückrufen könne? Ich schnitt ihr das Wort ab. Und sie bestätigte meine Erinnerung. Ja, ja, Birling Gap, natürlich. Wie ich das nur habe vergessen können, warf sie mir vor. Der Ort, an dem es nie zu regnen aufhörte. An dem unsere Mutter ständig geweint habe. Unser erster und einziger Urlaub als Familie. Irgendwann war sie sogar mit den Mädchen hingefahren.
    Silver setzte eine merkwürdige Miene auf. Dann ging er davon und tätigte einige Anrufe. Ich stand da mit meinen Pommes und zählte die Cottages. Es waren vier. Ich war sicher, dass wir in dem einen gewohnt hatten, das am nächsten zum Meer stand. Ich erinnerte mich vage daran, dass die Farbe uns unpassend fröhlich erschienen war – primelgelb vielleicht. Jetzt war es ein schmutziges Beige, das unter dem jahrelangen Ansturm von Feuchtigkeit und Salz fleckig geworden war. Ich marschierte auf und ab, bis mir auffiel, dass das Cottage, das wir damals gemietet hatten, gar nicht mehr da war. Die Klippe dort drohte wegzubrechen und wurde von einer Balkenkonstruktion gestützt. Unsere Ferienhölle war klammheimlich ins Wasser gegangen. Ich starrte den kleinen gestreiften Leuchtturm weit draußen auf See an.
    »Erinnern Sie sich?« Silver kehrte zurück und steckte sein Telefon weg, als er die Autotüren mit der Fernsteuerung entriegelte.
    »O ja.« Ich wandte mich von der baufälligen Häuserzeile ab. Ich erinnerte mich an die Lügen meines Vaters und die nicht enden wollenden Tränenströme meiner Mutter. »Wir hatten hier eine wirklich tolle Zeit.« Ich hielt mich an meiner Pommestüte fest und ging zum Auto. »Wissen Sie, woran ich mich am deutlichsten erinnere?« Außer an die Streitereien natürlich. Er schüttelte den Kopf. »An den Leuchtturm.« Ich deutete mit einem Pommes zu ihm hinüber, um es dann in den Mund zu schieben. Der unvermeidliche Essig darauf brannte in der offenen Wunde an meinem Mundwinkel, sodass ich das Gesicht verzog. »Immer zur Teezeit gingen seine Lichter an. Wir fanden das ziemlich aufregend. Wir kamen uns vor wie in dem Film Gesprengte Ketten.«
    Er sah verwirrt aus. »Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen«, sagte er. »Was meinen Sie?«
    »Na ja, es kam uns vor wie die Suchscheinwerfer der Nazis in diesem Film. Die strichen auch endlos über das Lager und suchten nach Ausbrechern.« Sich mit Robbie unter dem Tisch verstecken, während draußen der endlose Augustregen niederging, und Yeti spielen, während Leigh sich ihren alten Walkman aufsetzte und uns ignorierte. Meist lag sie auf dem Sofa und las einen Mädchenroman. Wir versteckten uns ohnehin mehr vor dem Unglück unserer Eltern, als um zu spielen, und suchten Schutz vor dem Geschrei in der Küche. Doch das erzählte ich natürlich nicht.
    »Der Leuchtturm ist also in Betrieb?« Irgendwie war er ganz in Gedanken versunken und doch sehr lebhaft.
    »Ich weiß nicht, ob er jetzt auch noch benutzt wird. Damals schon. Robbie wollte sogar eine Zeit lang Leuchtturmwärter werden.«
    »Warten Sie hier.« Er überquerte den Parkplatz zum Informationsschalter. Natürlich war der schon geschlossen. Also kam er zurück und versuchte es beim Büro der Küstenwache. Auch zu. Fluchend zog er sein Handy aus der Tasche. Ich saß in den letzten Sonnenstrahlen auf der Motorhaube und futterte meine Pommes auf. Ich sah ihn zwar sprechen, konnte aber nichts verstehen. Und mir fehlte jeglicher Antrieb, mir noch einmal irgendwelche Hoffnungen zu machen. Für heute hatte ich mein Pensum an Misserfolgen einfach schon erschöpft.
    Schließlich gestikulierte er zu mir herüber.
    »Wie wäre es denn, wenn wir heute Nacht hierblieben?«, fragte er und schaltete die Zündung ein. Wieso hatte ich nur das Gefühl, gar keine Wahl zu haben?
    Silver brachte mich zu einem kleinen Hotel mit Meeresblick, nicht so schick wie das nebenan liegende Grand Hotel,

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