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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Geschichte war auf der Titelseite abgedruckt, zusammen mit einer Beschreibung der Frau und einem weiteren Foto von Louis. Ich stellte mir vor, wie sein Gesicht tausendfach aus den Druckerpressen lief. Das Foto meines Sohnes in einer endlosen Wiedergabeschleife. Wie seltsam, das eigene Leben so in die Hand von Fremden zu legen. Menschen, die ich nicht kannte, versuchten, mir zu helfen. Oder vielleicht war es auch nur so, dass die Leute, die ich nicht kannte, einfach nur ihren Job taten.
    Als die beiden Beamten wieder herauskamen, wollte Silver die ersten beiden Anrufer vom Vortag sprechen. Er befahl, dass der Zeichner sofort das Bild anfertigte. Warum das nicht schon längst passiert sei? In viel zu hohem Tempo fuhren wir um Eastbourne herum, hoch über der azurfarbenen See, vorbei an Blumenkästen in geschmackloser Fülle. Wir jagten den Motor hoch, nachdem wir hinter alten Damen mit fliederfarbener Haartönung hergefahren waren, die in ihren altersschwachen Autos dahintuckerten und nie über dreißig Stundenkilometer fuhren. Vorbei an abblätternden, weißen Schildern, auf denen Plätze für Bed & Breakfast feilgeboten wurden.
    Immer wenn Silver wieder ins Auto stieg, spürte ich, dass seine innere Spannung gestiegen war. Der letzte Zeuge wohnte in Meads Village, einem Ort mit eleganten Stadthäusern, flankiert von hohen Stockrosen. Als er nach der Befragung losfuhr, konnte er seinen Unmut nicht länger verbergen. Offensichtlich war der studentische Zeuge high gewesen und hatte unzusammenhängendes Zeug gefaselt. »Ich musste mein ganzes Arsenal auffahren, um ihn überhaupt befragen zu können«, murrte er Kelly zu, der versuchte, Silver mit einem versöhnlichen Murmeln zu beruhigen, das dieser aber überhörte.
    »In der Wohnung hat es vielleicht nach Gras gestunken. Diese verdammten Studenten.«
    Offensichtlich war’s das. Wir brachten den rundlichen Polizisten zu seinem Wagen zurück.
    »Hungrig?«, fragte Silver knapp. Ich war so enttäuscht, dass mir alles egal war. »Vermutlich.«
    »Irgendwo gibt’s hier bestimmt Fish ’n Chips.«
    Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu fragen, wie die Gespräche denn gelaufen seien. Ich sah schon an seiner Haltung, dass es ein Schlag ins Wasser gewesen war. Er sah müde aus, grau unter der gebräunten Haut, als fühle er sich schuldig, weil er mich auf diese sinnlose Schnitzeljagd mitgenommen hatte. Ich konnte seine Enttäuschung so deutlich fühlen wie meine.
    Wir verließen Eastbourne auf der Küstenstraße, die von Meads Village aus aufwärts führte. Wir sprachen kein Wort, als wir durch die sich sanft wölbenden Hügel fuhren, vorbei an Eiskremwagen und den hochzeitskuchenweißen Klippen von Beachy Head. Die Abenddämmerung kam. Ein paar dünne Wolken wischten noch verstohlen über den kobaltblauen Himmel. Verloren starrte ich auf die abendlichen Spaziergänger, die Familien, die ihr Picknick zusammenpackten, die Paare mit ihren angeleinten Hunden. Wer hätte schon sagen können, ob sie nur die Aussicht bewunderten oder im nächsten Augenblick springen würden? Aber warum sollte man hier springen? Andererseits: Wenn man schon beschlossen hatte, mit allem Schluss zu machen, würde man es vielleicht wirklich gerne an einem atemberaubenden Ort wie diesem tun.
    Als die Sonne mit dramatischem Glanz unterging, erreichten wir einen schmalen Strand namens Birling Gap. Silver kaufte uns Pommes. Ich wanderte zu der düsteren Reihe alter Cottages hinüber, die aufs Meer hinaussahen. Ich war dieses komische Gefühl noch nicht losgeworden, das ich schon beim Herfahren hatte. Ich stützte mich mit den Ellbogen auf dem alten Mäuerchen auf und starrte die Häuser an, bis Silver hinter mir aufkreuzte. »Alles in Ordnung?«
    »Wissen Sie«, sagte ich langsam, während ich ihm meine Pommes aus der Hand nahm. »Hier war ich schon mal.«
    »Tatsächlich? Vor kurzem erst?«
    »Nein. Ich glaube, ich war hier mal mit meinem Vater. In den Ferien. Das ist lange her.«
    »Wie lange?«
    Einen Augenblick überlegte ich. Leider war die Erinnerung sehr verschwommen, was kein Wunder war.
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, es war, bevor mein Vater das letzte Mal eingelocht wurde.« Er fuhr das Fluchtauto bei einem saumäßig geplanten Bankraub, einen klapprigen Fiesta, den er auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof geklaut hatte. Sie kamen gerade mal bis zur ersten Straßenecke hinter dem Bankgebäude, bevor die Polizei sie schnappte. Ein paar von ihnen entwischten, mein Vater natürlich nicht. Er war

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