Morgen früh, wenn Gott will
Kindchen, Sie machen das alles super. Ich weiß, dass es schrecklich ist und dass Sie zornig sind. Ich verstehe auch, wie unglaublich hart es für Sie sein muss. Aber irgendwann ist es vorbei. Und zwar bald, das schwöre ich Ihnen, Jessica. Wir werden Louis finden.«
»Langsam kommt es mir so vor …«, meine Stimme brach. Tief atmete ich ein und aus, um die Fassung wiederzugewinnen. »Langsam kommt es mir so vor, als würde ich ihn nie wiedersehen.« Die Worte hallten in der kalten Nachtluft wider und schienen zwischen uns zu Boden zu fallen. Sein Griff um meine Schultern verstärkte sich ein bisschen.
»Ich bin sicher, Sie werden ihn wiedersehen. Das müssen Sie mir einfach glauben.«
»Ich fühle mich nur immer so seltsam. So vollkommen allein.«
Er strich mir das Haar aus dem Gesicht, und wieder fühlte ich das vertraute, unvermittelte Hüpfen des Herzens. Aber er nahm die Hand nicht weg. Stattdessen streckte er den Daumen aus und strich mir damit sanft über die Wange. Ich konnte ihn nicht ansehen. Nicht einmal atmen konnte ich. Ich hielt den Blick fest auf meine nackten Füße zwischen seinen beschuhten gerichtet und wartete. Als stünde ich auf der Klippe, um zu springen. Meine Lungen brannten, weil ich sie nicht mit Atem füllte. Ich rollte die Zehen zusammen. Schwankend stand ich am Abgrund.
»Aber das sind Sie nicht. Sie sind nicht allein«, sagte er ruhig. »Ich bin da, oder etwa nicht? Ich gehe nirgendwo hin.«
Und dann versuchte er mich dazu zu bringen, ihn anzusehen, aber ich wollte … konnte nicht. Ich durfte nicht. Also beugte Silver sich zu mir herab, und dieses Mal hielt ich ihn nicht auf. »Nicht! Du darfst das nicht zulassen«, flüsterte eine schwache Stimme in meinem Hinterkopf. Aber ich wollte es unbedingt. Wenn ich ehrlich war, hatte ich auf diesen Kuss gewartet, seit wir uns zum ersten Mal gesehen hatten. Es schien so selbstverständlich, so natürlich, und so ließ ich los. Irgendwie schmolz ich einfach in ihn hinein. Sein Mund war innen ganz heiß, heißer als er ausgesehen hatte. Doch sein Kuss war lang, sanft und suchend. Nicht dieses Aufeinanderprallen, wie es zwischen mir und Mickey war. Dieses Aufeinander-Zustürzen mit der ganzen Gewalt der Lust. Das hier war anders. In dieser feuchten Nacht entwickelte sich mein Begehren auf weiche, hingebungsvolle Art, und ich ließ es geschehen. Einen kurzen, glorreichen Moment lang ließ ich mich alles vergessen, verschmolz mit ihm und dachte nur an die Gegenwart. In dem dunklen, sternenerleuchteten Garten gab es nur uns beide. Ich atmete ihn ein. Irgendwie roch er genau richtig. Ich legte die Hände um seinen Hinterkopf, wie manche Frauen es in Filmen tun. Ich spürte sein kurzes, lockiges Haar, seine Schädelrundungen unter meinen Fingern. Sein Mund war noch süß von dem Cola, das er getrunken hatte. Und von seinem ewigen Kaugummi.
Sanft, aber bestimmte presste er mich gegen den Tisch. Seine Hand fuhr zwischen meine Schulterblätter. Die kühlen Finger wanderten über meine nackte Haut, zwischen meine zitternden Beine. Ich drängte mich gegen ihn, in ihn, stöhnte beim bloßen Gedanken an ihn und sehnte seine Hand weiter. Ich fühlte mich so flüssig wie der Wodka in meinem Glas, der jetzt zu Boden tropfte. Ich schlang meine Beine um ihn und ließ zu, dass er mich auf den Tisch hob, während sein Kuss immer drängender wurde. Sein Atem ging hörbar schneller, ich stürzte kopfüber in meine eigene Sehnsucht. Und dann…
Dann fing ich mich plötzlich wieder. Gerade noch rechtzeitig. Was zum Teufel tat ich da eigentlich?
»Nicht, jetzt gehst du …«, sagte ich schwer atmend, während ich ihn wegschob und meine nur allzu willigen Beine von ihm löste. In Wirklichkeit aber war ich sauer auf mich. Wütend, weil ich nicht nachgegeben hatte.
»Was?«, sagte er mit harscher Stimme, die seinen Dialekt noch deutlicher hervortreten ließ als sonst.
»Nicht. Jetzt bist du vielleicht da, aber am Morgen nicht mehr. Dann bist du wieder weg. Ich weiß das.« Zitternd griff ich nach dem Glas, damit ich ihn nicht ansehen musste. Ich stellte es auf den Tisch zurück. »Du gehst zu deiner Frau zurück, und natürlich«, ich hielt auf das Hotel zu, weg von ihm. »Natürlich bin ich auch verheiratet.« Ich fühlte die plötzliche Leere in mir, die unerfüllte Lust, den Sex, der nicht stattgefunden hatte. »Außerdem ist da ja noch Louis. Wie kann ich so etwas tun, wenn Louis vielleicht da draußen ist und ich ihn nicht finden kann?«
»Jessica …«,
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