Morgen früh, wenn Gott will
fing er an, aber ich lief weg, weg vor ihm und mir selbst. Ich lief hinein.
»Wecken Sie mich auf, wenn es Zeit ist«, sagte ich und trat in den Lift, bevor er mich erreicht hatte. Ungeduldig wartete ich, dass die Türen sich schlossen. Mein Spiegelbild in dem gelben Licht wirkte zerzaust. Der Mund war von den Wunden, die der General ihm zugefügt hatte, ganz geschwollen – und vor Lust. Zumindest hatte ich endlich einmal Farbe bekommen. Ich starrte mich kurz an, dann wandte ich mich ab. Ich ging zu Bett, wo ich schlaflos und verängstigt wach lag. Ich schwitzte unter dem dünnen Leintuch, die Nacht schien sich Stunden hinzuziehen.
Einige Zeit, nachdem ich mich hingelegt hatte, hörte ich ihn an meiner Tür klopfen und meinen Namen sagen, doch ich zog mir wie ein kleines Kind ein Kissen über den Kopf, damit ich ihn nicht hörte. Schließlich ging er weg .
Kapitel 20
Ich träume von Louis, meinem kleinen Louis. Silver mit nacktem Oberkörper hält ihn hoch in die Luft, doch er lässt ihn fallen, und ich fange zu laufen an, um ihn aufzufangen. Doch Silver erwischt ihn vor mir und hält ihn wieder so hoch, sodass ich meinen Sohn nie in die Arme nehmen kann. Dann sehe ich Mutter und Vater, wie sie in der Tür des verfallenen Cottage stehen, das jetzt verschwunden ist. Arm in Arm und dümmlich grinsend wie ein Paar Holzfiguren in einer Kuckucksuhr, die immer aus und ein wandern. Plötzlich weiß ich, dass dies der verregnete Sommer meiner Kindheit ist.
Ich wachte schweißgebadet auf, die Bettdecke um die Hüften gewickelt wie ein Leichentuch. Schwer atmend befreite ich mich aus der Umhüllung und griff nach meinem Inhalator. Ich wollte diese schrecklichen Ferien aus meinem Gedächtnis verbannen. Die Ferien, die so abrupt endeten, als meine Mutter herausfand, dass mein Vater am Tag darauf eine Gerichtsverhandlung und eine Verurteilung zu gewärtigen hatte. Dass man ihn nur gegen Kaution freigelassen hatte, weil sein Tumor bösartig war. Das war der Anfang vom Ende.
Erst da merkte ich, dass jemand klopfte. Verschlafen blinzelte ich, während ich auf den Wecker sah: fünf Uhr zweiunddreißig.
»Jessica, wir müssen los.« Es war Silver, was mich sofort beunruhigte. Mir wurde klar, dass er auf der falschen Seite der Tür war. In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich ihn noch immer begehrte. Einen Augenblick lang ließ ich mich hoffnungslos auf das Bett fallen und verfluchte meine Schwäche von letzter Nacht.
»In einer Minute bin ich unten«, rief ich fröhlich durch die Tür, erhielt aber keine Antwort.
Ich zog mich an: die strahlend weiße Unterwäsche, die die junge Polizistin mir gebracht hatte. Ich putzte mir die Zähne und spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Wenn die Schatten unter meinen Augen noch dunkler wurden, würde ich sie vielleicht nie wieder los. Die Kratzer auf der Stirn ließen mein Gesicht irgendwie schmutzig aussehen. Warum hatte Silver mich nur küssen wollen?
Er ging im Foyer vor der gähnenden Rezeptionistin auf und ab und klopfte ungeduldig mit dem Telefon gegen seinen Oberschenkel. Er trug keine Krawatte über dem zerknitterten Hemd. Zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, sah ich ihn unrasiert und vermutlich auch ungekämmt. Wieder machte mein Herz diesen merkwürdigen Sprung.
»Frühstück?«, fragte die Rezeptionistin und versuchte, höflich ihr Gähnen zu verbergen. »Ich bin sicher, wir können etwas auftreiben.« Sie deutete auf das Speisezimmer, doch dafür war einfach keine Zeit. Silver gab mir einen Pappbecher voller Kaffee und ein Päckchen Kekse aus der Minibar in seinem Zimmer. Dann drängte er mich auf den Parkplatz hinaus, ohne mich auch nur zu berühren. Er kochte vor Wut.
»Nur der Ordnung halber, Jessica«, fauchte er, während er die Autotür öffnete, ohne mich anzusehen. »Ich bin geschieden. Aber das haben Sie ja gar nicht gefragt.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er schon die Tür zugeschlagen. Als er sich auf den Fahrersitz gleiten ließ, sah er mich eine Sekunde lang beinahe sorgenvoll an. Dann sagte er: »Wo haben Sie nur gelernt, unter allen Umständen die Fassung zu bewahren?«
Fassung? Ich? Diese Sicht meiner selbst ärgerte mich. Ich versuchte, meinen Gedanken Ausdruck zu geben, mir etwas zu überlegen, was nichts mit meinem Sohn zu tun hatte. Doch als ich so weit war und ich zu sprechen begann, schnitt er mir das Wort ab.
»Lassen wir’s einfach, okay?«, sagte er kurz angebunden. Er drehte das Radio auf und öffnete
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