Morgen früh, wenn Gott will
mich erst auf einen Stuhl fallen, bevor ich in mich zusammensank und um meine Fassung kämpfte. Silver schlug vor lauter Wut mit der Faust gegen das Fenster.
»Jugendliche aus der Umgebung, nehme ich mal an.« Der Bebrillte schwitzte nicht mal. Er trat gegen einen Haufen Abfall in der Ecke, dann steckte er sich einen wenig aromatischen Stumpen an. Sogar für den unerfahrenen Beobachter war klar, dass hier jemand Drogen genommen, ja vermutlich Heroin gespritzt hatte. Auf dem alten, hölzernen Tisch, der jedes Mal knarzte, wenn jemand vorbeiging, war das ganze Zubehör ausgebreitet: Alufolie, Zündhölzer, ein verbogener Teelöffel. In einer Ecke rollte dem Bebrillten eine gebrauchte Spritze entgegen. Rundherum verstreut Zigarettenstummel und ein altes Paket Golden Virginia. Der Kachelboden allerdings ähnelte dem auf dem Video. Auf dem Fenstersims lag ein kleiner Stapel Kiesel. Von meinem Baby allerdings keine Spur. Auch kein Anzeichen dafür, dass es je hier gewesen sein könnte.
Die Leute von der Spurensicherung – die SOCO, wie der Bebrillte sie nannte – kamen in ihren knisternden Papieranzügen. Ich trottete hinter Silver die Stufen hinunter und über den Sand, der im Morgenlicht schimmerte wie Glas. Ich hoppelte über die flachen Steine am Strand und über die hölzernen Stufen an der Böschung. Als ich Silver zum Wagen folgte, spürte ich, wie die Verzweiflung mich überkam, stärker denn je, weil sie von zu viel Hoffnung rührte.
Auf dem Weg zurück durch die sich um die Hügel herumwindenden Straßen begann ein leichter Regen zu fallen. Wehmütig erinnerte ich mich an die Geschichten von den Feengrotten, von denen mein Vater uns erzählt hatte, als wir damals in unserem Cortina so hoffnungsvoll durch die Nacht unseren traurigen Sommerferien entgegenfuhren. Bevor meine Familie endgültig auseinanderbrach.
Silver legte etwas angemessen Tragisches auf, einen schmerzvollen Blues. Doch von einem »Tut mir leid« abgesehen, hörte ich immer noch kein Wort von ihm. Ich machte ein paar halbherzige Versuche, mich mit ihm zu unterhalten, gab aber bald auf. Er fuhr, und ich verfiel in einen unruhigen Schlaf. In meinen Träumen tummelten sich riesige Spritzen und Bilder von meinem Bruder, der plötzlich aussah wie mein Sohn. Als ich aus dem Schlummer schreckte, waren wir schon fast zu Hause. Mir war ein Speichelfaden aus dem Mund gelaufen. Mit einem Seitenblick prüfte ich, ob Silver es gesehen hatte, doch dessen Augen waren fest auf die verstopfte Straße vor uns gerichtet. Ich wiederum wurde das Bild meines Bruders Robbie nicht los, meines kleinen Bruders mit seinem glasigen Blick, wie er da auf dem Sofa des Generals lag und sich nach nichts weiter als nach einem Nadelstich sehnte.
Kapitel 21
Irgendetwas war an der Vorderfront meines Hauses anders, als der Wagen dort hielt, wenn mir auch nicht sofort auffiel, was es war. Erst ein paar Sekunden später bemerkte ich, dass mein Auto nicht da war. Zum ersten Mal, seit Louis verschwunden war, war das Auto weg. Jemand anders hatte dort geparkt, wo es sonst immer stand. Einen verrückten Augenblick lang dachte ich, Mickey sei zurück. Ich fing schon an, mir auszumalen, wie meine Verehrer miteinander stritten, aber ein Blick in Silvers undurchdringliche Miene sagte mir, dass das wohl nie passieren würde. Nicht, dass ich es mir gewünscht hätte. Dann dachte ich, dass jemand vielleicht Louis nach Hause gebracht und das Auto auf meinen Parkplatz gestellt hatte. Und so rannte ich beinahe auf die Tür zu.
Kelly und Deb kamen mir in der Einfahrt entgegen wie ein etwas ungeschicktes Begrüßungskomitee. Irgendetwas war da los. »Ist Louis da?«, rief ich ihnen entgegen, doch der Kugelbauch sah eher sorgenvoll drein.
»Nein, tut mir leid«, sagte er. Ausnahmsweise war er nicht beim Essen.
»Haben Sie Maxine frei gegeben?«, fragte Deb mich gespannt. Ich schüttelte den Kopf.
»Wieso?«
»Sie ist ausgerissen, und ich fürchte, sie ist in Gesellschaft.«
Silver schob einen neuen Streifen Kaugummi in den Mund. »In welcher Art Gesellschaft?«, fragte er. Deb sah ein wenig nervös aus und meinte in mütterlich-entschuldigendem Ton: »Wir glauben, sie ist mit Robbie unterwegs.« Dabei konnte sie mir kaum in die Augen sehen.
Leise fluchte Silver: »Hab ich euch nicht gesagt, ihr sollt ein Auge auf ihn haben?« Er sah Kelly an, doch der war dickfellig wie immer, selbst jetzt, da sein Chef ihn rüffelte.
»Wollten wir ja auch, Chef, und das werden wir noch, sobald wir
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