Morgen früh, wenn Gott will
überflutete mich, begleitet von einem hässlichen Gefühl tief unter der Oberfläche, das ich resolut zur Seite schob. Ich verdrängte den Gedanken an Silver in die hinterste Ecke meines Kopfes. Ich lächelte mit Deb. Ich versuchte es, wirklich. Einesteils war ich ja froh, dass das Alleinsein bald vorüber sein würde. Dass wir unsere Suche nach Louis gemeinsam fortsetzen konnten. Und ich war froh, dass Mickey endlich wieder gesund war.
Ich versuchte zu vergessen, dass sich ein Schatten über mein Herz gelegt hatte, als ich hörte, dass er bald wieder zu Hause sein würde. Hämisch dachte ich, dass ich, hätte ich die Wahl zwischen Mickey oder Louis, letztlich keine Schwierigkeiten hätte, mich zu entscheiden. Die Krise hatte uns nicht zusammengeschweißt. Eher im Gegenteil.
Es war keineswegs alles in Ordnung im Haushalt der Finnegans. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war hier schon seit geraumer Zeit nichts mehr in Ordnung.
Kapitel 22
Am nächsten Tag nahm das Geschehen plötzlich Fahrt auf, so lange, bis ich den Eindruck hatte, auf einem verrückten Karussell aus Angst und Hoffnung zu sitzen. Die Tatsache, dass Robbie und Maxine zusammen weggelaufen waren, wurde als Schuldeingeständnis gewertet. Man gab ihre Personenbeschreibungen und meine Autonummer an alle Häfen und Flughäfen durch. Leigh war überzeugt, dass unser Bruder Louis entführt hatte, und sah sich in ihrer Ablehnung bestätigt. Unsere Mutter rief aus Spanien an, weinte herzzerreißend und wollte getröstet werden. Ich wühlte in meinem Innersten, bis ich ein paar tröstliche Worte fand. Doch in meinem Innersten war ich mir gar nicht so sicher, was Robbie anging. Andererseits wusste ich nicht, was ich von alldem halten sollte. Sosehr ich den Himmel auch anflehte, dass das Rätsel endlich gelöst werden möge, so wenig konnte ich mir Robbie vorstellen, wie er meinen Sohn entführte. Warum auch? Es gab immer noch keine Lösegeldforderung. Was also wäre sein Motiv? Außerdem fühlte ich persönlich mich von Maxine weit mehr betrogen. Ich hatte sie in unser Haus aufgenommen. Ich war nett zu ihr gewesen, manchmal wider besseren Wissens – und so vergalt sie es mir.
Mickey war zwar mittlerweile stabil und dauerhaft bei Bewusstsein, erinnerte sich aber bedauerlicherweise immer noch wenig an den Tag, an dem Louis verschwunden war. Ich wollte mit Annalisa über meine Zweifel sprechen, über meine Ängste, dass meine Ehe unter diesem Druck vielleicht zerbrechen würde, doch andererseits hatte ich viel zu viel Angst, mir das einzugestehen. Also zog ich es vor, diese Dinge nicht laut auszusprechen, und nahm stattdessen eine Pille. Um mich später dafür zu verachten. Ich sah mir Fotos von Louis an, aber immer, wenn ich an seinem Zimmer vorbeikam, musste ich den Blick abwenden. Seit er verschwunden war, ließ ich die Tür fest geschlossen. Die Tür mit den kleinen Holzlettern, die bunte Leoparden und Orangen und Sonnen darstellten. Und den Namen meines Sohnes buchstabierten. Silver kam nicht mehr. Er sei beschäftigt, hieß es.
Ich tigerte im Haus herum. Schließlich holte ich mein Bike hervor. »Früher« war ich Rennen gefahren. Doch das Rad lag nun schon so lange in der Garage, dass Spinnen ihre Netze darüber gewoben hatten. Ich musste es suchen, weil es so gut versteckt hinter dem alten Rasenmäher und den schicken Gartenstühlen lag, die wir nie benutzten. Der Vorderreifen war nicht ganz voll, sodass ich ihn aufpumpen musste. Dann fuhr ich mit dem Rad in die Heide hinaus und zog damit immer größere Kreise – so schnell es irgendwie ging. Es nahm mir den Atem. Ich spürte, dass ich am liebsten weglaufen würde. Der Wind fuhr mir ins Haar wie früher, bevor ich Mickey kennen lernte, aber ich wollte nicht zu weit fahren. Man wusste ja nie. Louis konnte schließlich jede Minute zurückgebracht werden.
Dann rief Robbie an. Er rief mich auf dem Handy an, was nicht dumm war, weil die Anrufe auf dem Festnetzanschluss natürlich abgehört wurden. Seine Stimme war zittrig und klang weit entfernt. Er hörte sich merkwürdig an.
»Ich weiß, was du denkst, Jess«, fing er an. Betrübt schüttelte ich den Kopf. Ich setzte mich neben mein Bike und seufzte.
»Weißt du das wirklich, Rob?«
»Ja, aber ich war es nicht. Ich schwöre es, ich habe ihn nicht.«
»Weißt du was?«, sagte ich langsam. »Ich glaube dir, Robbie.
Tief in mir drin tue ich das. Doch in den Augen der Polizei sieht es nun mal gar nicht gut aus. Weißt du, was ich meine?
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