Morgen früh, wenn Gott will
glaube ich, nicht einmal erkannt hat, Jess.« Sie sah mich an, ihre Hände zu Fäusten geballt. »Letzte Nacht wusste Robbie nicht einmal, wer ich bin. Er war so dicht, hatte sich seinen blöden, kleinen Schädel dermaßen zugeknallt, dass er einfach durch mich hindurchsah. Es war seltsam. Als wären wir uns nie begegnet.«
Erschrocken sah ich, wie Leighs Augen sich mit Tränen füllten. Leigh weinte nie.
»Ich kann das nicht ertragen, Jess. Was zum Teufel ist mit ihm nur schiefgegangen? Er war so ein wunderbarer kleiner Junge.« Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Ihre künstliche Bräune bekam allmählich Streifen. »Bei uns ist es doch auch ganz gut gelaufen, oder?« Trostsuchend sah sie mich an.
Das Problem war, dass sie nie mit dem wirklichen Robbie zu tun gehabt hatte, jedenfalls nicht, seit er kein Teenager mehr war. Er war ein verlorener Junge gewesen, doch sie hatte ihm immer die Tür vor der Nase zugeschlagen, hatte ihm Absagen geschickt und tapfer meiner Mutter Schlachten geschlagen, wie nachsichtig diese gegenüber Robbie auch immer sein mochte. Tatsächlich war Leigh es gewesen, die diesen Kampf in seiner Gänze geführt hatte. Daher hatte der wirkliche Robbie in ihrem Kopf noch keinen Platz gefunden. Doch – und das war für uns alle mehr als traurig – in puncto Wahrheit gab es leider kein Entkommen. Einer Wahrheit, deren Tragweite auch ich erst jetzt zu erahnen begann. Die traurige Situation hatte Leigh wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht getroffen.
Ich stand auf und schlang meine Arme um ihren zierlichen Körper. »Nein, Leigh. Ich würde sagen, wir beide haben es ganz gut gemacht. Und man weiß nie: Vielleicht kommt Robbie ja auch irgendwann zur Besinnung.«
Wir sahen in den zugewachsenen Garten hinaus, auf die letzten, wie hingetupft wirkenden weißen Rosen, die an den Büschen verwelkten. Still lauschten wir den winzigen Geräuschen gemütlicher Häuslichkeit, die durch den trägen Nachmittag klangen. Jemand sah offenkundig ein Cricketspiel im Fernsehen an und applaudierte begeistert. Der Geruch von gegrillten Würstchen lag in der Luft. In der Nähe lachte ein Kind und wurde zum Essen gerufen. All diese freudvollen Geräusche drangen in mich wie Messerstiche. Winzig, aber schmerzhaft tief. Ich versuchte, in den Geräuschen der Nachbarn, die von tausend ungeschriebenen Geschichten erzählten, Trost zu finden. Da stand ich nun mit meiner Schwester vor meinem stillen Haus, in dem es solche Geräusche nicht mehr gab. Wir wussten beide, dass das, was ich eben über Robbie gesagt hatte, wohl kaum wahr werden würde.
Mittlerweile war mir wirklich eng um die Brust. Mein Schlafzimmer sah immer noch aus wie eine Müllkippe, deshalb musste ich nach einem Inhalator suchen. Mittlerweile gingen sie mir aus, ich musste dringend mein Rezept erneuern lassen. Der Dreck erschütterte mich weniger als Leigh. Nach meinem Abend beim General konnte mich, was Robbie anging, nichts mehr überraschen. Trotzdem war ich verwirrt. Robbie und Maxine zusammen? Das schien wirklich merkwürdig. Wer wohl die Fäden zog, an denen Robbie hing? Das anzügliche Grinsen des Generals ging mir wieder durch den Kopf. Silver wollte, dass ich Anzeige wegen Körperverletzung erhob, was den Bastard hoffentlich eine Zeit lang hinter Gitter bringen würde.
Ich wollte mich gerade anziehen, als unten das Telefon läutete. Wie immer blieb mir dabei fast das Herz stehen. Zuerst eine wilde, herzzerreißende Hoffnung, dann eine ebenso unvermittelte und starke Furcht. Nur in ein Handtuch gehüllt, lief ich auf den Treppenabsatz hinaus und spähte übers Geländer nach unten. Dort sah ich zunächst nur Debs lockigen Kopf. »Komm schon«, dachte ich still. Und tatsächlich drehte sie das Gesicht zu mir und lächelte mich an. Ein breites Lächeln – das bedeutete: gute Neuigkeiten; allerdings nicht breit genug, um zu signalisieren, dass man meinen Sohn endlich gefunden hatte.
»Das Krankenhaus«, sagte sie und legte die Hand über die Muschel. »Nehmen Sie schon den Hörer ab.« Schwester Kwame erklärte mir in ihrem singenden Tonfall etwas, von dem sie dachte, es müsse mir Freude bereiten: dass mein Mann bald nach Hause kommen würde. Mickey war auf dem Wege der Besserung. Mit einer Art lahmen Erleichterung nahm ich es zur Kenntnis und ließ mich auf den Stuhl neben dem Telefon fallen. Trotz der Hitze war mir kalt.
Ich wusste, dass ich mich freuen sollte – aber irgendwie war mir merkwürdig zumute. Panik
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