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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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einfach die Panik, als ich Sie hörte.«
    »Und sind dann zurückgekommen?«
    »Ja. Wissen Sie, ich wusste nicht, was Liebe wirklich ist, bevor ich Louis nicht hatte«, flüsterte sie. Ich bewegte mich einen winzigen Schritt auf sie zu, damit ich ihre Worte trotz Wind und Möwen verstehen konnte. Das Boot schaukelte nun noch stärker. Wir mussten uns um Gleichgewicht bemühen, was den Abstand zwischen uns weiter verringerte.
    »Vorher konnte ich mir das nur vorstellen«, sagte sie und sah mir über den Lauf der Waffe hinweg in die Augen. »Wenn ich mir je hätte vorstellen können, wie sehr man ein Baby lieben kann, hätte ich es vermutlich nicht getan. Ich wusste nicht, wie sehr es Sie verletzen würde, Jessica, dass ich Ihr Kind entführt habe.«
    In diesem Augenblick wurde mir klar, was sie mir zu sagen versuchte: Sie liebte meinen Sohn. Einen merkwürdigen Augenblick lang war ich sogar froh um die Tatsache, dass sie dieses Gefühl kennen gelernt hatte. Dann hörte ich ein sachtes Weinen. Ich verkrampfte mich vor Anspannung. Eine Sekunde lang dachte ich, meine Ohren hätten mir einen Streich gespielt. Vielleicht doch nur eine Möwe. Aber dann ertönte es wieder, und mein Herz ertrank förmlich in Freude. Das musste mein Sohn sein. Nun war jede Faser in mir angespannt. Jedes Härchen stand mir zu Berge.
    »Nun«, sagte ich und rückte wieder eine Winzigkeit näher. Sehr viel näher ging es nun nicht mehr, denn sonst hätte ich die Pistole verschluckt. »Kann ich ihn jetzt bitte zurückhaben? Kann ich mein Baby zurückhaben?«
    Ihr Gesicht fiel buchstäblich in sich zusammen und sah mit einem Mal verwüstet aus. Niemals in meinem ganzen Leben habe ich solch eine Verzweiflung gesehen. Und ich möchte sie niemals mehr wiedersehen. Ihr schönes Gesicht war so vom Schmerz gezeichnet, dass ihre Augen ganz leer wurden vor Kummer. Das Leben floss aus ihnen ab, kein Licht mehr, kein Sein, ihre Seele war daraus entschwunden. Wir standen fast eine Ewigkeit auf dem ächzenden Deck, und ich spürte, wie sie fieberhaft überlegte. Ich sah, wie sie alle Hoffnung aufgab, vor meinen Augen alt wurde wie ein zerknüllter Schatten ihres früheren Selbst.
    Ich fragte mich gerade, ob ich ihr die Pistole entreißen sollte, als sie plötzlich in sich wieder ein wenig Kraft zu finden schien. Sie hielt die Pistole auf meinen Kopf gerichtet. Nun zitterten auch ihre Hände nicht mehr.
    »Dann sehen wir doch mal«, sagte sie und wirkte dabei sehr ruhig. Sie tat einen Schritt auf mich zu, mein Herz raste, sodass ich befürchtete, es könne die schmerzende Brust sprengen. Bitte töte mich nicht, bevor ich meinen Sohn noch einmal gesehen habe, betete ich insgeheim. Jetzt hatte ich wirklich Angst. Ich überlegte, was ich jetzt noch sagen konnte, doch in meinem Kopf war nur gähnende Leere. Dann fing Agnes wieder zu sprechen an.
    »Wer bekommt das Kind, he, Jessica? Wer soll ihn denn jetzt haben?« Mit der freien Hand strich sie sich das Haar aus den Augen, die andere hielt die Waffe auf mich gerichtet.
    »Sie sollen ihn bekommen. Er braucht Sie, das sehe ich jetzt – mehr als mich. Mehr sogar noch, als ich ihn brauche«, sagte sie.
    Und dann richtete sie mit unfassbarer Eleganz die Pistole auf sich, schob sie sich in den Mund und bevor ich noch wusste, was sie tat, bevor ich noch »Agnes« rufen konnte, bevor ich eine Bewegung machen konnte, um sie aufzuhalten oder wegzusehen, blies sie sich das gequälte Gehirn aus dem gut geschnittenen Kopf.

 
Kapitel 27
     
    Louis schlief, als ich mich zu ihm hinabbeugte. Draußen gab es ein wahnsinniges Tohuwabohu, aber er schlief einfach – wie ein Baby, wie es so schön heißt.
    Malloy und sein Team waren in Sekunden auf dem Deck, aber Agnes war schon tot. Man konnte nichts mehr für sie tun. Ich ging um sie herum, wandte die Augen ab, so gut es ging, und stieg die paar Stufen zur Kabine hinunter. Da war mein Baby. Er schlief auf einem fleckigen alten Campingbett unter einer Kaschmirdecke.
    Ich wollte ihn aufnehmen, aber zuerst sah ich ihn einfach nur an. Ich konnte gar nicht glauben, wie schön, wie vollkommen er war. Eines seiner knubbligen Händchen lag über dem Kopf, und er machte kleine, saugende Bewegungen mit seinem Rosenknospenmund, während er schlief. Ich wollte über die zarte Wölbung seiner Oberlippe streichen, wo sich die rosigen Lippen mit seiner hellen Haut trafen. Am liebsten hätte ich ihn so eng an mich gedrückt, dass er wieder ein Teil von mir würde, aber all das tat ich nicht. Ich

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