Morgen früh, wenn Gott will
Untersuchungshaft offensichtlich vollkommen hysterisch geworden und der Polizei keine große Hilfe. Ich brachte die nächsten Tage wie in Trance zu, eingehüllt in die reine Liebe zu meinem Kind. Dazwischen trauerte ich ebenso ungebremst um meinen Bruder – und auf seltsame Weise auch um Agnes. Ich hatte sie nie gemocht, auch nicht bevor ich gewusst hatte, was sie getan hatte, aber sie tat mir leid, weil ihre Verzweiflung sie zum Äußersten getrieben hatte. Jetzt, wo ich meinen Louis zurückhatte, konnte ich großherzig sein und ihr vergeben.
Leigh hatte Louis’ Zimmer aufgesperrt und Licht und Luft hereingelassen. Sie hatte alle Fenster aufgerissen, die Fensterläden hochgezogen und überall Blumen hingestellt. Und so zog ich mich in den alten Schaukelstuhl in Louis’ Zimmer zurück und leckte meine Wunden, geistig und körperlich, und hielt mich an meinem Sohn fest. Der all das Knuddeln, Schmusen und Gurren bald satthatte und sich wand, um meinem Schoß zu entkommen und seine alte Welt von Neuem zu erkunden.
Ich suchte seine glatte, duftende Haut nach Kratzern oder Abschürfungen ab. Mir wäre auch nicht die kleinste Wunde entgangen, aber es sah wirklich so aus, als habe man sich perfekt um ihn gekümmert. Agnes hatte gut auf ihn aufgepasst. Louis trug neue, teure Sachen, als ich ihn zurückbekam. Auch die gestreifte Kaschmirdecke, auf der ich ihn in der Kabine gefunden hatte, trug seine goldgestickten Initialen. Ich warf sie trotzdem in den Müll. Er sah dicker aus als früher. Sein Bäuchlein war über der Windel angeschwollen wie ein klitzekleines Bierbäuchlein. Ich stellte mir vor, wie Agnes online Sachen für ihn bestellte und so tat, als sei er ihr Sohn. Ich sah sie vor mir, wie sie ihn in ihrem Versteck fütterte und in schmerzhafter Liebe verzückt auf ihn hinabsah, während er an seiner Flasche nuckelte. Da sie ihn ja nicht als ihren Sohn präsentieren konnte, sondern ihn dauernd verstecken musste, war ihre Liebe angesichts verzweifelter Umstände im Verborgenen erblüht. Eines Tages fing ich im Badezimmer an zu weinen, weil Agnes mit all ihrem Kummer mir so leidtat. Mein eigener Schmerz war zu dieser Zeit schon am Schwinden.
Eine Zeit lang belagerte uns wieder die Pressemeute und suchte nach einem günstigen Winkel für einen Schnappschuss, dann wurde sie unser überdrüssig und zog zum Schauplatz der nächsten Tragödie weiter. Einen Tag, nachdem wir wieder zu Hause waren, kamen meine Mutter und George nach London. Sie nisteten sich bei Leigh ein. Sobald man seinen Körper freigab, würden wir Robbie beerdigen können. Ich sprach mit meiner Mutter am Telefon, fühlte mich aber noch nicht bereit, sie zu sehen. Und ich spürte die schmerzhafte Leere, als ich merkte, dass ihr das egal war. Ich versprach, sie bald zu besuchen, konnte es aber nicht ertragen, mich jetzt schon um sie und ihren tragischen Verlust kümmern zu müssen.
An einem kühlen Septemberabend tauchte unerwartet Silver auf. Ich war oben und legte Louis schlafen, als er ankam. Mickey ließ ihn herein. Als ich hinunterkam, saßen die beiden Männer so weit voneinander entfernt, wie es nur irgend ging. Mein Mann, der von vollkommener Förmlichkeit war, musste sich damit abfinden, dass der Polizist – natürlich – nichts zu trinken wollte. Er selbst hielt ein Glas goldenen Scotch in der Hand und reichte Silver gerade ein Glas Orangensaft, als ich den Raum betrat.
»Und ab wann hatte das Mädchen damit zu tun?«, hörte ich Mickey fragen, während er widerstrebend Puccini leiser machte. Silvers unerwartete Gegenwart ließ mich erschauern.
Er verwirrte mich. Ich sah ihn nicht an, als ich Hallo sagte und dabei grinste. So unbeteiligt wie ich nur konnte, ging ich durch das Zimmer. Die weißen Rosen, die Mickey mir zu meiner Heimkehr gekauft hatte, verloren ihre Blätter, sodass sich ein Minischneesturm über den Teppich gelegt zu haben schien. Angelegentlich klaubte ich sie auf, wobei ich beiden Männern den Rücken zukehrte.
»Setz dich, Jessica, bitte«, sagte Mickey streng, und ich gehorchte automatisch und ließ mich neben meinem Mann auf der Sofakante nieder.
»Um ehrlich zu sein sind wir dessen nicht ganz sicher, Mr Finnegan. Es ist schwierig, eine klare Aussage aus ihr herauszubekommen, vor allem weil ihr Englisch sich seit der Verhaftung offensichtlich in nichts aufgelöst hat.« Silver nahm einen Schluck Orangensaft. »Eines allerdings ist sicher. Ihr armer alter Vater hatte nicht die leiseste Ahnung, was vorging. Scheinbar
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