Morgen früh, wenn Gott will
konnten. Mit hektischen Handbewegungen deutete er auf das Wasser. Ganz ruhig sagte Silver zu Agnes: »Lassen Sie mich ihr einfach nur den Rettungsring zuwerfen, Agnes, in Ordnung?« Agnes verzog verächtlich den Mund und antwortete: »Wenn sie so dämlich war zu springen, dann sollte sie auch den Preis dafür bezahlen, finde ich.« Silver versuchte weiter, sie zu überreden, aber sie ignorierte ihn. Er warf mir einen Blick zu. Ich hätte schwören können, dass er blinzelte, nur einmal, dann sprang er selbst ins Meer.
»Zum Teufel, Silver!«, brüllte ich, aber es war zu spät. Nun war auch er außerhalb meines Blickfelds. Und Agnes richtete die Waffe auf mich: »Wenn du deinen Sohn je wiedersehen willst, dann komm her.« Ich gehorchte. Die kleine Gruppe von Polizisten auf der Straße stand wie festgefroren. Deb sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Ich wandte ihnen den Rücken zu und ging die Gangway hinauf, meinem Schicksal entgegen.
Es war mir egal, ob sie mich umbringen würde. Es war mir völlig gleichgültig. Ich wollte nur eines: sehen, ob Louis noch lebte. Das Boot tanzte ächzend auf den Wellen auf und ab, sodass ich meine Füße fest in die geteerten Planken stemmen musste. Die Möwen schrien so laut, dass man fast nichts anderes verstand, ich aber spitzte die Ohren und horchte auf irgendwelche Geräusche von Louis.
»Haben Sie ihn? Ist er hier?«, fragte ich, als ich ihr auf dem Deck gegenüberstand. Sie sah schrecklich aus. Ihr Haar hing strähnig unter der Kapuze hervor, ihr Gesicht war mit Motoröl verschmiert. Was sie allerdings noch schlimmer aussehen ließ, war der Tick in ihrer Wange, die unkontrollierbar zuckte. Die Waffe, die sie in der Hand hielt, war keine normale Pistole, sondern sah aus wie eine, mit der man Leuchtpatronen abschießt.
»Haben Sie meinen Sohn?«, fragte ich nochmals, ein wenig lauter jetzt. Sie zuckte nonchalant mit den Schultern. In ihren kalten Augen blitzte die Lust an der Provokation auf.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Verdammt, Agnes, hören Sie doch mit diesen Dummheiten auf. Sie wissen, dass Sie das hier nicht unbeschadet überstehen werden.« Vielleicht hätte ich mehr Angst haben sollen. Rational betrachtet war dies sicher der Fall. Sie stand da, hatte vollkommen den Verstand verloren und richtete eine Waffe auf mich, als wären wir Helden in einem Wildwestfilm. Doch mich überkam plötzlich eine absolute Ruhe. Ich wusste, dass ich für meinen Sohn jederzeit sterben würde – und jede Strafe auf mich nähme, zu der ich verurteilt würde. Mein Herz klopfte so schnell, dass es fast weh tat, aber ich spürte Louis Nähe. Ich wusste, dass er hier irgendwo war. Alle Mutterinstinkte brachen sich Bahn. Sie überrollten mich fast.
Agnes zielte mit der Pistole immer noch auf mich, doch ihre Hände zitterten. Die Pistole schien sie niederzuziehen. Gesicht und Körper zeigten deutliche Anzeichen der Erschöpfung. Sie wirkte gebrochen. Es hatte zu regnen angefangen. Ein dünner, kalter Nieselregen peitschte mein Gesicht. Ich freute mich darüber.
»Warum haben Sie es getan, Agnes?«, fragte ich ruhig und trat einen Schritt auf sie zu.
»Warum nicht?«
»Das ist keine Antwort, und Sie wissen das.«
»Darum eben. Warum sollte ich Ihnen das erklären?« Jetzt spuckte sie Gift und Galle. Sie zog die Kapuze vom Haar, der Regen lief über ihr eckiges Gesicht. Ich spürte den Kampf in ihr, selbst wenn sie mir dabei direkt in die Augen sah.
»Weil du alles hattest, und ich gar nichts. Deshalb. Weil ich Mickeys Baby wollte. Ich konnte ja nicht.«
»Warum?«, spottete ich. »Weil Sie Ihren Designer-Lebensstil nicht aufgeben wollten?«
Sie sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Verstand. Dann straffte sie sich in den Schultern. »Was? Ich hätte alles aufgegeben, um ein Kind haben zu können.«
»Und warum haben Sie es dann nicht getan?«
»Ich konnte nicht.« Ihre Lippen kräuselten sich. »Das hat er dir doch wohl gesagt?«
Ich dachte zurück. Mühsam machte sich mein Verstand an den Hindernislauf um die jüngsten Ereignisse herum. »Nein. Er sagte, Sie hätten nicht gewollt.«
Jetzt sah sie aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Sie richtete die Pistole wieder auf mich. »Das hat er nicht gesagt, du verdammte Lügnerin. Nie hätte er das gesagt.«
Die Pistole, deren Mündung sich auf meine Brust richtete, war nicht nach meinem Geschmack. Auch Agnes’ Blick nicht, der jetzt ziemlich irre wirkte. »Nein, stimmt. So hat er es nicht
Weitere Kostenlose Bücher