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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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flüsterte Silver etwas ins Ohr.
    »Hatten Sie eine Handtasche bei sich, Mrs Finnegan, als Sie Ihren Sohn verloren haben? Oder noch eine andere Tasche?«
    »Ich habe meinen Sohn nicht verloren«, korrigierte ich ihn. »Jemand hat meinen Sohn mitgenommen.« Mir schwirrte der Kopf. Ich schwankte im Stehen. Ich flüsterte: »Ja, ich hatte eine Tasche. Eine grüne Tasche.«
    »Leder? Mit einer Menge Innentaschen und einem …« Er sah in sein Notizbuch: »… einem Platinanhänger?«
    Unglücklich nickte ich. Ein Geburtstagsgeschenk von meinem Mann. Die teuerste Tasche, die ich je besessen hatte. Ich hatte mich kaum getraut, sie zu benutzen. »Haben Sie sie gefunden?«
    Der Beamte mit dem Schmerbauch räusperte sich. »Sieht so aus, Mrs Finnegan. Aber nicht die rote Tasche. Nur eine grüne. Und einen Buggy von MacLaren.« MacLaren. Das war der Name.
    »Wo?«, fragte ich ruhig. Meine Welt brach langsam zusammen. Rund um mich brach unwiderruflich meine ganze Welt zusammen.
    Der Beamte trat von einem Fuß auf den anderen, sein kleiner, fester Bauch drückte sich gegen das billige Streifenhemd. »Am Fluss, beim Tower Bridge Pier.«
    »Und – und Louis?«, krächzte ich, während meine Knie weich wurden. Inspector Silver stützte mich. Leigh hatte aufgehört zu lachen und lief herbei, um meinen anderen Arm zu nehmen.
    »Von Louis keine Spur, Jess«, sagte Silver. »Kein einziger Hinweis. Was an diesem Punkt allerdings als gutes Zeichen gelten kann.«
    Einen Moment lang schwankte ich. Wie eine Seiltänzerin über dem tödlichen Abgrund. Es gab genau zwei Möglichkeiten. Ich konnte fallen und mich zu Tode stürzen. Was jetzt vielleicht das Einfachste wäre, aber meinem Sohn nicht helfen würde. Oder ich konnte tun, wofür ich mich letztendlich entschied. Ich hielt mich sehr gerade, jede Faser meines Körpers, und beschloss in diesem Moment, dass, wenn man Louis nicht gefunden hatte, dies nur eines bedeuten konnte: Er war noch am Leben.
    »Mehr haben Sie nicht? Nur eine durchweichte Tasche?«, sagte ich fest. »Dann ist ja alles in Ordnung, nicht wahr?« Dann ließ ich sie stehen und ging hinaus in die schreckliche beigefarben gestrichene Eingangshalle, durch elektrische Türöffner und Schwingtüren hindurch auf die Straße.
    Ich ging so schnell, dass ich mich innerhalb weniger Minuten verlaufen hatte. Ich wusste nicht, wo ich war, marschierte aber trotzdem weiter. Ich wollte nur allein sein, wollte weg von all der Anteilnahme, den überängstlichen Augen ausweichen, die jede meiner Bewegungen beobachteten. Ich brauchte einen klaren Kopf, aber es fiel mir so schwer, mich zu konzentrieren. So ging ich einfach nur immer weiter. Jede Sekunde hämmerte die Frage in mein Herz, ob ich jetzt vielleicht in Louis’ Nähe war. Ich sah in jedes Fenster, in jedes Auto, starrte Frauen mit Kindern auf dem Arm so lange an, bis sie sich entnervt abwandten. Mein Blick fixierte die Kinder, ich wünschte mir sehnlichst, meines wäre dabei.
    Irgendwo schrie mir ein Bauarbeiter mit einem Gesicht wie ein Lederapfel zu: »Nimm’s leicht, Herzchen, vielleicht wird’s ja gar nichts.« Und ich ging auf ihn zu, so nahe, dass ich die Schweißperlen auf seinem Brusthaar sehen konnte, und sagte in sein überraschtes Gesicht hinein: »Ja, aber Sie werden schon sehen, es ist schon was geworden.« Worauf er eilig den Mund zuklappte und schwieg. Ich ging und ging und ging, bis ich das Gefühl hatte, umfallen zu müssen. Als ich nicht mehr gehen konnte, rief ich mir ein Taxi und fuhr nach Hause.
     

Kapitel 9
     
    Als ich zurück war, ging der Trubel erst richtig los. Alle waren da – Leigh, Silver, Deb –, aber sie hörten mich nicht hereinkommen, weil sie vor Mickeys riesigem Fernseher saßen und der Sprecherin der Sechs-Uhr-Nachrichten lauschten, die mit dem üblichen Rehblick ernsthaft die Nachrichten verlas. Louis’ kleines Gesichtchen erschien plötzlich auf dem Bildschirm. Er lächelte nicht, und ich fragte mich, warum sie kein Bild genommen hatten, auf dem er lächelte. Ich hatte dieses Foto nicht ausgesucht. Wer also war es? Dann war ich da, ich sah aus wie eine Obdachlose, schmutzig, verwahrlost und vollkommen überfordert. Neben mir sah der gefasste Silver geradezu grausam unberührt aus. Ich hätte mich kämmen sollen, dachte ich unlogisch.
    »Wenn meine Mutter das gesehen hätte«, flachste ich, und alle drehten sich zu mir um und machten ein unglaubliches Aufhebens. Mit einem Mal wurde mir wieder übel, und mein Kopf schien mir wegfliegen

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