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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Mädchen.«
    Ich hätte fast zurückgegeben, dass ich nun wirklich kein Mädchen mehr sei, stattdessen aber sagte ich: »Ich ziehe mich an.«
    »Gut«, meinte Inspector Silver. »Haben Sie schon etwas gegessen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das sollten Sie. Sie werden Ihre Energie noch brauchen. Deb wird Ihnen ein paar Scheiben Toast machen. Dann gehen wir.«
    Am Fuß der Treppe blieb ich stehen. Leigh war immer noch am Telefon.
    »Oh«, sagte ich eisig und konnte endlich einmal auf Silver hinunterblicken. »Können Sie denn keinen Toast machen?« Dann schritt ich die Treppen hinauf und schlug die Tür hinter mir zu.

Kapitel 8
     
    In der Zeit kurz nach der Geburt geriet ich gewöhnlich in Panik, wenn ich ohne ihn irgendwo hinmusste. Nicht etwa weil ich nicht allein sein wollte, sondern weil ich es mir so verzweifelt wünschte. Auch ließ ich ihn nicht oft allein, doch wann immer ich es tat und mir zwischendrin auffiel, dass ich allein war, ging ein schmerzhafter Ruck durch mich, und ich fragte mich verzweifelt, wo zum Teufel ich ihn gelassen hatte. Ich stand in der Schlange im Coffeeshop oder kaufte eine Zeitung, und plötzlich blieb mir fast das Herz stehen – aus Angst ich hatte Louis irgendwo vergessen. Ich hatte mich so schnell daran gewöhnt, an diesen kleinen Körper gefesselt zu sein, dass das Alleinsein, auch wenn ich es mir innigst wünschte, sich fremd für mich anfühlte, irgendwie falsch. Und dann die überwältigende Erleichterung, wenn mir einfiel, dass er sicher zu Hause war.
    Nach diesem Gefühl verzehrte ich mich förmlich. Ständig wartete ich auf diese Erleichterung. Immer wenn das Telefon läutete oder Inspector Silvers Handy klingelte, zogen sich mir Magen, Herz und Hände zusammen, und ich wartete darauf, dass Silver die Faust in die Luft stieß und schrie: »Sie haben ihn gefunden.« Doch ganz tief in mir, an einer Stelle, die ich tunlichst mied, wartete ich auch auf jene Worte, die mir den Todesstoß versetzen würden. Und ich versuchte verzweifelt, jene Momente zu vergessen, in denen ich mich nach meiner verlorenen Freiheit zurückgesehnt hatte, Momente, die seit Louis’ Geburt gar nicht so selten waren.
    Inspector Silver und Deb brachten mich dorthin, wo Mickey letzte Nacht gefunden worden war. Ein unschuldiges Sträßchen auf dem Weg zur Tower Bridge, grau und schmutzig im wolkigen Licht des Morgens. Nervös suchte ich nach Blutflecken, schaute mir die Augen aus dem Kopf nach irgendwelchen Hinweisen – aber natürlich fand ich nichts. Nur einen Haufen vertrockneter Hundescheiße an der Ecke, und ein Pin-up-Poster aus der Sun von letzter Woche, auf dem ein Mädchen in der Sommerhitze zeigte, was sie zu bieten hatte.
    Dann fuhren wir nach Lewisham, zu der monströsen neuen Polizeistation, in der Leigh uns erwartete. Wir kamen in einen Raum, in dem Männer in T-Shirts hinter Filmkameras warteten und sich offensichtlich langweilten, während junge Damen mit teuren Haarschnitten und angespannten Gesichtern sich an Mikrofone und Notizblöcke klammerten und alle paar Sekunden auf die Uhr sahen. Sie erinnerten mich an die Eichhörnchen, die durch unseren Garten spurteten, um auch noch die letzte vergrabene Nuss auszubuddeln. Ich fühlte mich ungeheuer allein, als ich da so stand und darauf wartete, das Podium zu betreten, obwohl Inspector Silver neben mir blieb und mir ermutigend zublinzelte, als wir unsere Plätze einnahmen. Zum ersten Mal war ich froh, dass er da war.
    »Sie tun doch auch nur ihre Arbeit, Kindchen«, murmelte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Am Ende werden Sie ihnen noch dankbar sein.« Dann zog er mit nahezu unmerklicher Geschicklichkeit seine Manschetten gerade. Die weißen Hemdsärmel schimmerten makellos über den sonnengebräunten Händen.
    Leigh kam mit uns aufs Podium, und ihr Make-up war wie üblich tadellos, obwohl die Luft so dick war wie geschmolzene Schokolade. Ich hingegen sah aus wie eine getaufte Maus. Der Gedanke, dass Leigh das alles irgendwo auch genoss, erschreckte mich. Als Kind hatte sie von Starruhm geträumt. Sie ging sogar eine Zeit lang zur Schauspielschule, bis mein Vater verschwand. Ich klatschte zu allem, was sie in ihre Haarbürste sang. Doch das war natürlich Unsinn. Sie war vollkommen unmusikalisch und hatte Plattfüße, wie meine Oma immer sagte, bevor sie mir eine Fünfpfundnote in die Hand drückte, weil ich ihr leidtat. Denn meine Mutter schenkte mir nie dieselbe Aufmerksamkeit wie Leigh oder meinem kleinen Bruder.
    Dieses

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