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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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nach der ich gierig hungerte – vollkommen verloren, wie ich damals schon war. War es nicht völlig normal, dass der beste Sex in meinem Leben mir mein Kind gebracht hatte? Unerwartet, anfangs unerwünscht – dann aber da, plötzlich ins Leben geworfen.
    Im Krankenhaus bestand man darauf, dass ich ein Gespräch mit einem Psychologen führen sollte. Ihrer Ansicht nach hatte ich versucht, Selbstmord zu begehen, und was ich auch immer sagen mochte, sie waren nicht von ihrer Meinung abzubringen.
    Ich versuchte alles, dem zu entgehen, doch am Ende hatte ich keine Wahl: Ich musste sie sogar anflehen, dass sie mich zu Mickey ließen, bevor ich mit dem Psychologen gesprochen hatte. Widerwillig gaben sie ihre Einwilligung.
    Auf der Intensivstation war es so still wie immer, als Schwester Kwame mich hereinholte, damit ich meinen Ehemann besuchen konnte. Obwohl vor den jalousienbewehrten Fenstern die Sonne schien, herrschte hier gedämpftes Licht wie in einer Krankenhauskapelle.
    »Er schläft jetzt«, murmelte sie und sah ihn liebevoll an. »Wecken Sie ihn doch, Liebes? Aber sanft, in Ordnung?«, meinte sie. Dann verschwand sie. Ihr gestärkter Rock hinterließ ein Wispern in der Stille, in der ich plötzlich allein an seinem Bett stand.
    Mittlerweile hatten seine blauen Flecken die Farbe gewechselt. Die lilafarbenen Blutergüsse wurden an den Rändern gelb wie eine überreife exotische Frucht. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und strich sanft über die Haut rund um sein blaues Auge. Er bewegte sich leicht. Ich widerstand dem Versuch, richtig zuzudrücken.
    »Mickey«, sagte ich nach einer Weile leise. Er murmelte etwas und rollte seinen Kopf zur Seite. Mittlerweile atmete er ohne Maschinen, sein Mund verzog sich schmerzlich. Ich sah, wie der Schmerz sich über sein Gesicht ausbreitete, und fragte mich, wo er wohl war, in welcher Welt er sich befand. Und dann schlug er auf einmal die Augen auf. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück.
    Man hatte mir gesagt, dass durch den Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen war. Vermutlich nur eine kurzfristige Amnesie, hieß es. Ich stählte mich innerlich und versuchte, die starke Frau zu sein, die ich einmal war.
    »Ich bin es, Mickey. Ich, Jessica«, sagte ich und beugte mich zu ihm hinab, als wäre er ein Kind. »Wie fühlst du dich?«
    Einen Augenblick lang sah er mich nur mit leeren Augen an. Panik machte sich in meiner Brust breit und presste meine Lungen zusammen. O Gott, jetzt habe ich auch noch meinen Mann verloren, dachte ich. Wir starrten uns gegenseitig an. Dann hob er ganz, ganz langsam seine zerkratzte Hand und berührte mein Gesicht.
    »Jessica«, flüsterte er. Ich hätte schwören können, dass in seinem verletzten Auge eine Träne glitzerte. »Meine Jess.« Das traf mich unerwartet. »Ich bin so froh, dich zu sehen, Liebling.«
    Nervös schluckte ich und strich über seine Hand, während ich mir das Gehirn darüber zermarterte, was ich jetzt wohl Einfühlsames sagen könnte. Wieder verzog er das Gesicht, als versuche er sich an etwas zu erinnern, das er vergessen hatte. Dann flüsterte er: »Wie geht es Louis? Ich kann gar nicht erwarten, ihn zu sehen. Ist er hier?«
    Die Galle stieg in mir hoch und brannte in meinem noch wunden Hals. Was sollte das denn bedeuten? Ich ballte die Hände zu Fäusten und biss mir in die Zunge. Ich trat einen Schritt vom Bett zurück und kämpfte gegen den Impuls an wegzulaufen. In der Ecke stand ein Stuhl. Ich nahm mir Zeit, ihn leise herüberzuziehen und mich an seine Seite zu setzen. Ich atmete einmal tief ein und aus und sagte es dann: »Louis wird vermisst, Mickey.« Diesen Schmerz konnte ich ihm nicht ersparen. Ich konnte ihn einfach nicht mehr alleine tragen.
    »Vermisst?« Er versuchte sich aufzusetzen. »Was meinst du mit ›vermisst‹?«
    Wieder zog sich mir das Herz zusammen, als ich ihn ansah und nach Worten suchte. Ich wusste ja, dass er Trost brauchte, nur wusste ich nicht, woher ich ihn nehmen sollte.
    »Ich meine ›vermisst‹. Weg. Jemand … jemand hat ihn mitgenommen. Kannst du dich an nichts erinnern?«
    Langsam schüttelte er den Kopf. Die Träne, die sich im Winkel seines dunkel verschwollenen Auges gesammelt hatte, rollte endlich über seine Wange. Voller Faszination und Schrecken sah ich zu, wie sie ihren Weg nahm, weiter unten an der Narbe Halt machte und sich in der sauberen Naht verfing, die sich dort unten zusammenzog. Dann war sie verschwunden.
    »Louis wird seit mittlerweile

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