Morgen früh, wenn Gott will
die Straße zu richten.
»Es könnte jemand dahinterstecken, den Sie gut kennen. Es könnte auch sein, dass Sie das eigentliche Ziel sind. Im Moment überprüfen wir Maxine. Ich weiß, dass Sie sich wegen der Fotos Sorgen machen, doch es gibt immer noch keinen Grund …«
Seine Stimme sank zu einem unverständlichen Brummen herab, während der Wagen kurz anhielt. Mittlerweile hatte sich mein Gehirn in Matsch verwandelt. Eine unendliche Trägheit überfiel mich, eine innere Starre, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Mir war übel – vom Autofahren, vom Schmerz, von der Sehnsucht nach meinem Sohn. Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und sog die frische Luft ein, so tief wie irgend möglich. Wie viele Tabletten hatte ich genommen, bevor wir losgefahren waren? Und da war es dann. Es lag auf dem dreckverklebten Gehsteig, zwischen den Fastfood-Tüten und den Kippen. Eine Zeitungsschlagzeile, die meine persönlichen Angelegenheiten in die Welt hinausposaunte:
Baby entführt – noch am Leben?
»Bitte«, sagte ich undeutlich. »Mir geht es nicht besonders gut.«
Er bremste so schnell, dass mein herumrollender Kopf fast an der Windschutzscheibe landete. Dann zog er mich aus dem Auto und stützte mich. Während ich mich in den Rinnstein übergab, hielt er mir das widerspenstige Haar aus dem Gesicht. Als ich das Gefühl hatte, fertig zu sein, gab er mir ein Baumwolltaschentuch, um mir den nach Luft schnappenden Mund zu säubern.
»Es ist gebügelt.« Ich klammerte mich daran fest, als hinge mein Leben davon ab. »Sie haben es gebügelt.«
»Irgendjemand hat es gebügelt, Kindchen. Geht’s besser?«
»Ich fühle mich seltsam. So ein bisschen … benebelt«, flüsterte ich und ließ mich gegen ihn sinken.
»Das überrascht mich gar nicht. Haben Sie außer ein paar Keksen überhaupt etwas gegessen, seit Louis verschwunden ist?«
Ich konnte mich nicht erinnern. Dann schüttelte ich den Kopf. Ich sollte essen, wenn mein Baby nach mir rief und ich ihm nicht helfen konnte?
»Daran liegt’s nicht«, sagte ich mit hohl klingender Stimme. »Ich glaube …«
»Was? Was glauben Sie?« Er beugte sich über mich, um mich besser zu hören, doch der Geruch seines Aftershaves ließ mich erneut erbrechen. Im Rinnstein glänzte hell ein Pennystück.
»Zu viele Pillen«, bekam ich schließlich heraus. Mein Mund war innen pelzig, die Worte stolperten über meine schwere Zunge, die sich so dick anfühlte wie eine Scheibe totes Fleisch. Voller Elend. Ich stützte mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn. Warum sollte ich auch noch stehen müssen?
»Zum Teufel«, schimpfte er. Dann hob er mich mehr oder weniger hoch und setzte mich ins Auto. »Wie viele?«
»Ich weiß nicht. Ich habe nicht mitgezählt.« Irgendwie stürzte ich ab, in ein tiefes, dunkles Loch, dessen Wände so schlüpfrig waren, dass ich mich nirgendwo festhalten konnte. Ich wollte zu Louis. Er brauchte mich. Mein Kopf flog zurück, als wir mit lautem Geheul losfuhren.
»Bleiben Sie einfach nur wach, Jessica. Bleiben Sie bei mir.« Er drehte mein Gesicht zu sich. »Hören Sie mich? Wir sind fast schon im Krankenhaus. Schlafen Sie nicht ein, in Ordnung?«
Mein Kinn fiel auf die Brust. »Sie brauchen mich nicht anzuschreien«, brabbelte ich.
Er stellte das Radio laut, und ich zwang mich, die Augen offen zu halten. Die Buchstaben aus der Zeitung tanzten vor meinen Augen hin und her: Noch am Leben? Noch am Leben? Totoderlebendig, mausetot, totototototot.
Kapitel 10
Ich wollte es nicht. Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte nur, dass der Schmerz aufhört.
Als ich Louis bekam und mich endlich an ihn gewöhnt hatte, als ich ihn dann richtig lieben konnte, als ich aufhörte, darüber in Panik zu geraten, dass er mein Kind war, begann ich mich allmählich zu fühlen, als wäre ich wieder sechs Jahre alt. Ein Gefühl wie das, das man als Kind am Weihnachtsmorgen hat, wenn man aufwacht und noch ein paar Minuten lang daliegt, und plötzlich fällt einem ein, dass irgendetwas Tolles passiert ist, dass man Geschenke bekommen hat. Also stand ich auf und spazierte in Louis’ Zimmer, um zu sehen, wie sein Gesicht strahlte, um sein Glucksen zu hören und sein Quietschen, wenn er winkte mit seiner kleinen, dicklichen Hand, die ich halten musste, weil ebendies meine Aufgabe war. Damals liebte ich ihn mehr als irgendetwas sonst auf der Welt. Es war, als wären alle Weihnachtstage, die ich je erlebt hatte, in ihm zu einem lachenden Bündel geschnürt worden.
Dieses Mal
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