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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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aber erwachte ich in einem Krankenhausbett und wusste nicht, wo ich war. Zumindest wusste ich, dass es nicht Weihnachten war. Meine Freundin Shirl saß an meinem Bett. Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ich war so froh, sie zu sehen, dass mir eine dicke, fette Träne die Wangen hinabrollte. Sie zog einige Papiertücher aus der Box auf dem Nachttisch und drückte sie mir in die Hand. Eine Minute lang hielt ich ihre Hand so fest, als wollte ich sie nie wieder loslassen.
    »Neuigkeiten?«, brachte ich schließlich krächzend hervor. Mein Hals fühlte sich an, als sei er bis auf einen winzigen Durch – lass zugeschwollen. Meine Stimme war so schwach, dass Shirl sich zu mir herunterbeugen musste, um mich zu verstehen.
    »Neuigkeiten?«, bat ich flehentlich, aber sie schüttelte traurig den Kopf.
    »Leider immer noch nichts von Louis, fürchte ich. Noch nicht, Liebes«, sagte sie, als fiele es ihr schwer, es laut auszusprechen. Dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht: »Aber soweit ich weiß, ist Mickey aufgewacht.«
    »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich und drückte ihre Hand noch fester.
    »Mittwochmorgen«, sagte sie, und in meinem Kopf rechnete es. »Warum hast du mich nicht angerufen, Kleines? Ich habe dich gestern in den Nachrichten gesehen und hätte fast einen Herzanfall bekommen.«
    »Weil du der einzige Mensch warst, von dem ich sicher wusste, dass er keine Ahnung hatte, wo Mickey war.«
    Wie schuldbewusst lächelte sie: »Das stimmt allerdings.« Pause. »Sie haben Louis noch nicht gefunden, doch scheinbar klingeln in einem fort die Telefone. Der niedliche Polizist wird bald kommen und dir alles erzählen. Er behauptet, es seien Hunderte von Anrufen eingegangen. Verdammt noch mal, irgendjemand muss doch wissen, wo der süße Louis ist.«
    »Ich nehme an, meine Mutter ist nicht gekommen?«, fragte ich leise und versuchte, mich im Bett aufzusetzen. »Au! Gott, tut mir der Bauch weh.«
    »Das ist kein Wunder, man hat dir den Magen ausgepumpt.«
    »Ausgepumpt?«
    »Ja, ausgepumpt. Als hättest du eine Überdosis geschluckt.«
    Ich sah weg. Von meinem Bett aus konnte ich das »London Eye« sehen, das gigantische Riesenrad, das man zum Jahrtausendwechsel gebaut hatte. »Nette Aussicht. In einem Hotel müsste man dafür ganz schön was hinblättern.«
    »Jessica.«
    »Was?«
    »Du weißt schon, was.«
    »Ich wollte mich nicht umbringen, Shirl. Das nicht. Ich habe einfach immer nur was von dem Zeug nachgeschmissen. Und irgendwann waren es dann mal ein paar Tabletten zu viel.«
    »Komm schon, Kleines. Ich glaube, ich habe dich noch nie eine Tablette nehmen sehen.«
    »Das stimmt schon, aber du weißt ja, wie das ist: in einer Situation wie dieser …«
    Eine Krankenschwester trug eine Blumenvase herein. »Aha!«, meinte sie, ganz falsche Freundlichkeit und echte Falten. »Sind wir endlich aufgewacht, Fräulein Schlafmütze?«
    Ja, dachte ich. Endlich wach. Unglücklicherweise. »Hübsche Blumen«, murmelte ich höflich. Dann sah ich Shirl an.
    »Was ist denn?«
    »Du findest ihn nicht wirklich niedlich, oder?«
    »Doch, auf eine – wie soll ich sagen? – lockere Art. Jetzt sag mir nicht, dass dir das nicht aufgefallen ist, Mädchen.«
    »Ich habe im Moment Wichtigeres im Kopf, Shirl.«
    »Ja«, seufzte sie sorgenvoll. »Sieht so aus.«
    Trotzdem nahmen meine Wangen ein über dem grünen Krankenhauskittel wenig vorteilhaftes Rot an.
    In der Nacht, als ich mit Louis schwanger wurde, vögelten Mickey und ich mit einer Wildheit, die mich beinahe überwältigte, mit einer Leidenschaft, die ich nie zuvor mit irgendjemand anderem erlebt hatte. Wochenlang hatten wir einander umschlichen. Von einem aufs andere Mal nie ganz sicher, tigerten wir regelrecht durch das Büro, das unsere Schreibtische trennte. Ich wollte ihn, und doch erschreckte er mich; ich wollte ihn, aber ich würde nicht nachgeben. Er machte mir auf merkwürdige Weise Angst, eine Angst, der ich nicht ins Gesicht sehen wollte. Er glitt auf einer Oberfläche dahin, die ich nicht durchdringen konnte, und darunter schoss etwas schnell dahin – zu dunkel, um es zu ergründen. Er verbarg seine Wunden, und zwar sehr gut – wenigstens meistens.
    An unserem zweiten Abend lud Mickey mich zum Ballett nach Covent Garden ein. Wir sahen ein Stück mit dem Titel »Coppelia«. Es ging um Puppen und einen Spielzeugladen. Mickey nannte es »leichten Stoff«, was mich vermuten ließ, dass ich mich maßlos langweilen würde, tatsächlich aber gefiel es mir. Ich hatte Gene

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