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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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achtundvierzig Stunden vermisst. Er war bei dir, als er verschwand.«
    Verständnislos sah er mich an.
    »Du hattest ihn«, meine Stimme überschlug sich fast. »Ich habe euch beide verloren, erinnerst du dich daran?« Schweißperlen liefen mir über die Stirn. Ein beklemmendes Schweigen breitete sich aus.
    »Ich glaube, ich erinnere mich an einen Zug«, sagte er dann hoffnungsvoll. Seine Stirn legte sich in ängstliche Falten, was ihn offensichtlich enorme Anstrengung kostete.
    »Nun ja, wir waren unterwegs zur Tate Gallery. Um die Hopperausstellung anzusehen. Dort wurde ich dann von euch getrennt. Und nun finde ich dich hier wieder, während Louis …« Ich konnte diese Worte kaum noch aussprechen. »Louis wird vermisst. Ich … niemand hat ihn seither gesehen. Abgesehen von den fünfhundert Irren natürlich.«
    »Fünfhundert Irre?«
    »Ja, fünfhundert verdammte Irre. Die seit meinem Appell bei der Polizei angerufen haben.« Er sah mich immer noch verständnislos an. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du dich an nichts erinnern kannst.«
    »Der Appell?«
    »Alles hängt von dir ab, Mickey. Davon, dass du dich erinnerst.«
    »Bitte, Jessica, hab Erbarmen. Ich …«
    Eine von Mickeys Maschinen begann laut zu piepsen und übertönte seine Worte. Sofort war Schwester Kwame an seiner Seite und hantierte eine Weile an den Geräten herum. Dann nahm sie Mickeys bleiche Hand in ihre dunkle und legte die Finger an seinen Puls.
    »Und du?«, flüsterte er, wobei er mich nicht ansehen konnte. »Geht es dir gut?«
    »O ja, mir geht es super«, sagte ich wie betäubt. »Wenn wir schon bei den Phrasen sind.«
    Die Stimme der Krankenschwester drang sanft an mein Ohr. »Sein Blutdruck geht hoch. Ich glaube, er braucht jetzt ein wenig Ruhe, meine Liebe.« Ruhe? Wenn es nur irgendwo Ruhe gäbe.
    »Mickey, ich muss … ich gehe jetzt besser. Schlaf ein bisschen. Ich komme später wieder vorbei.« Ich stand auf. »Aber bitte«, flehte ich ihn an, »versuch dich zu erinnern, solange du hier herumliegst. Wir müssen ihn schnell finden. Die Polizei ist draußen. Sie warten, bis sie mit dir sprechen können. Denk nach. Erinnerst du dich denn an gar nichts?«
    Wieder schüttelte er den Kopf, und ich kämpfte gegen die Woge der Wut an, die mich zu überschwemmen drohte. Aber ich wollte nicht ungerecht sein. Es war ja nicht seine Schuld. An der Tür blickte ich zurück. Er sah so armselig aus, so gebrochen, so wenig wie mein Mickey, er lag so hilflos da, dass mein ganzer Ärger mit einem Mal verrauchte und stattdessen Liebe und Mitleid in mir aufstiegen.
    »Ich komme heute Abend wieder, in Ordnung?«, sagte ich. Doch er hatte den Blick mittlerweile abgewandt und lag sehr still. Nur seine Finger bewegten sich und zupften unablässig am Leintuch. Also ging ich zurück zu ihm und küsste ihn zärtlich auf die Stirn.
    »Ruh dich aus, Liebling«, flötete ich und fragte mich, ob es nun so weitergehen würde. Mickey, der zu meinem Kind wurde, während Louis verschwunden war. Dann verließ ich den Raum, bevor ich noch den letzten Rest meines Verstandes einbüßte.
    Deb wartete auf dem Flur auf mich. »Geht es Ihnen ein bisschen besser? Und Ihrem Mann? Es war doch schön, endlich mit ihm sprechen zu können, oder?«, meinte sie munter.
    »Da stimmt etwas nicht. Das ist nicht mein Mann«, sagte ich und eilte, so schnell ich konnte, auf das Tageslicht zu. Ich hörte, wie sie mir mit schnellen Schritten nachkam. Dann fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm.
    »Was soll das heißen, nicht Ihr Mann? Ich verstehe Sie nicht. Ist etwas …«
    »Nein, tut mir leid, natürlich ist es Mickey«, fiel ich ihr verwirrt ins Wort. »Aber nicht der Mickey, den ich kenne.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Ich weiß auch nicht. Er ist wie ausgewechselt. Und er kann sich an nichts erinnern.«
    »Ah ja. Kommen Sie, Jessica. Sie müssen ihm eine Chance geben. Schließlich hat er einen üblen Schlag auf den Kopf bekommen. Das ist eine ziemliche Tortur …«
    »Eine Tortur«, wiederholte ich wie ein Papagei. »Ja, das ist es wohl.« Ich stieß die Tür zum Korridor auf, bevor meine Gedanken noch finsterer werden konnten.
    Shirl saß mit Inspector Silver in der Kantine. Für meinen Geschmack sah das Ganze ein wenig zu lauschig aus. Ihr Kopf neigte sich ihm zu, ihre Afromähne schimmerte einladend über dem grünen Haarband. Erzählte sie ihm etwa meine Geheimnisse? Manchmal hätte ich am liebsten meine Hände in ihrem glitzernden Haarschopf vergraben, wie Louis das

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