Morgen früh, wenn Gott will
Hand ausstrecken und ihn trösten, so wie in den verrückten, bittersüßen Tagen unserer Kindheit.
Wie auf Kommando sah Robbie auf und lächelte mich an. Ich hörte, wie er einen Drink bestellte. Gerührt bemerkte ich, dass es mein Lieblingsdrink war. Meine Gefühle für ihn bekamen allerdings einen kräftigen Dämpfer, als er mich bittend ansah, weil er kein Geld dabeihatte. Bewusst strich ich Leighs harte Worte aus meinem Gedächtnis und fischte ein paar Münzen aus meinen Shorts.
»Zum Henker, Jess, gehst du jetzt inkognito aus?«
Ich lächelte schief und nahm die Brille ab. Im Pub war es dunkel, und um diese frühe Stunde waren ohnehin nur wenige Leute hier.
»Eigentlich darf ich keinen Schritt tun, ohne den Inspector zu informieren, wo ich bin. Ich wollte nur ein wenig ungestört sein.«
»Kein Wunder«, meinte er und bot mir eine Selbstgedrehte an. Ich runzelte die Stirn. Er grinste entschuldigend. »Ups! Sorry, Jessie. Ich habe nicht daran gedacht. Hast du was dagegen, wenn ich rauche?« Aber natürlich war die Frage überflüssig, er hatte die Zigarette schon angezündet und spuckte ein paar Tabakkrümel aus, die ihm auf der Zunge kleben geblieben waren.
»Blas den Rauch einfach von mir weg.« Ich rutschte auf den Hocker neben ihm und nahm einen Schluck Wodka. Er gluckerte angenehm die Kehle hinunter und hinterließ ein warmes Gefühl gleich hinter meinem schmerzenden Herzen. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte ich. Er sah auf die Uhr. Sie war billig und über und über zerkratzt. Ich meinte: »Erinnerst du dich noch an die falschen Rolex-Uhren, die Dad uns damals besorgt hat? Vom schmierigen Will auf der East Street?« Robbie grinste unwillkürlich. Ich spürte wieder diese Komplizenschaft mit ihm, die ich beinahe vergessen hatte, und das machte mich froh. Bis er sagte: »Ich habe meine weiterverkauft. An eine nette, alte Lady, der ich geschworen habe, sie sei echt.«
»Robbie!« Ich war empört, aber nicht überrascht.
»Was? Sie war eine alte Schachtel, die zu viel Geld hatte. Ich hingegen hatte gerade eine Pechsträhne.«
»Du hast kein Glück mehr gehabt, seit du sechzehn warst. Zumindest, wenn man deinen Storys glauben darf.«
Er leerte sein Bierglas. »Mach’s noch mal voll, Chef.« Er schob dem rundlichen Barmann das Glas über die Theke. Ich rückte ein bisschen an ihn heran. Neben seinem Tabakbeutel lag ein Stück Papier; ich las in Robbies grässlicher Handschrift verschiedene Telefonnummern für jemanden, der als »General« bezeichnet wurde, daneben Zahlen, große Summen, die zusammengezählt und geteilt worden waren.
»Robbie, was war denn los? Ich …«
»Du?«
»Ich habe dich vermisst.«
»Ach zum Teufel, Jess, jetzt mach keinen Aufstand.« Bei diesen Worten kniff er mich in die Wange, wie unser Dad das zu tun pflegte. Ich wurde rot. »Tu ich doch gar nicht. Ich bin hart im Nehmen, du kennst mich doch.« Um ruhiger zu werden nahm ich einen weiteren Schluck Wodka. »Aber ich verstehe immer noch nicht, weshalb du so lange abgetaucht bist, Rob.«
»Ich bin nicht abgetaucht. Ich war nur … nun ja, weg.«
»Du meinst …?«
»Nein, nicht so weg. Richtig weg. Im Ausland.«
»Mama glaubt, du bist tot, weißt du das?«
»Ich habe sie angerufen. Jetzt, wo ich … nicht mehr weg bin.«
»Ich wette, sie war begeistert.«
»Darauf kannst du wetten.«
Wieder kämpfte ich gegen den Neid an, den ich zum ersten Mal empfand, als meine Mutter ihn triumphierend auf ihren Armen von der Klinik nach Hause brachte. Endlich ein Junge – wie sie ihn seit jeher gewollt hatte. Sie hatte mir nie verziehen, dass ich keiner war. Zumindest kam es mir so vor.
»Und wo war ›weg‹ dann?«, fragte ich nach einer Weile.
»Hauptsächlich Asien. Ein wenig Südamerika, aber hauptsächlich Asien. Thailand vor nicht allzu langer Zeit. Bangkok ist eine verdammt geile Stadt.«
Ich dachte an Sonne und Meer, exotische Düfte, an Reisende und Rucksäcke – eine Welt, die ich nur zu gern selbst erkundet hätte. Ich dachte an unseren Fünf-Sterne-Urlaub auf Mauritius. Weiter weg war ich noch nie gewesen. Mickey hatte diese Inklusivreise für uns gebucht, als ich im dritten Monat schwanger war. Und er hatte darauf bestanden. Was für ein Luxus! Allerdings durften wir unser Edelhotel nicht weit verlassen. Sehr hübsch, danke, aber nicht unbedingt das, was ich mir unter einer Reise vorstellte. Ich hatte mir vorgenommen, mir nach Ende meines Kunststudiums die Welt anzusehen. Auch diesen Plan sah ich durch meine
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