Morgen früh, wenn Gott will
keine normale Kindesentführung zu sein. Es gibt keine Lösegeldforderung, bisher wenigstens. Niemand fordert irgendetwas. Nur diese Sache: in Ruhe gelassen zu werden. Das könnte auf einen – psychologisch gesehen – schwierigeren Fall hindeuten.«
»Ein Verrückter?«, flüsterte ich.
»Sehr häufig werden kleine Kinder von Frauen entführt, die unbedingt Kinder wollen, aber aus irgendeinem Grund keine bekommen können.«
Deb sah meinen Gesichtsausdruck. »Fast immer kümmern sie sich ganz vorbildlich um das Kind.« Dabei drückte sie meinen Arm.
»Fast immer?«
»Immer.« Die Ader an ihrem Hals pochte.
»Die machen Witze.« Meine Stimme klang so rau und mühsam, als müsste ich die Luft mit den Füßen aus dem Boden saugen. »Sie haben meinen Sohn und glauben, dass ich sie in Ruhe lassen werde?«
Plötzlich war das Video zu Ende. Das Rauschen ließ uns alle auffahren. Ich umklammerte Silvers Arm. »Können Sie das bitte noch einmal zurücklaufen lassen? Zu der Stelle … wo Louis ist.« Tränen strömten mir übers Gesicht, meine Nase lief, alles tropfte mir auf den Kimono, wo schon die Teeflecken waren. Shirl versuchte, mir Taschentücher in die Hand zu drücken, doch ich tappte halb blind zum Bildschirm, wo ich das Gesicht meines Sohnes mit den Fingern nachzog. Ich sah ihn lächeln. Er lächelte! Mein Herz brach entzwei. Er war glücklich genug, um zu lächeln – also war er ohne mich glücklich. »Wo haben Sie das her?«, krächzte ich. Silver stand jetzt hinter mir.
»Es kam mit dem Rad zu Scotland Yard.«
»Mit dem Rad?«, wiederholte Shirl ungläubig.
»Mit einem Fahrradkurier. Es wurde dort in den frühen Morgenstunden abgegeben. Dies ist ohnehin nur eine Kopie. Das Original ist bei der Spurensicherung. Wir finden heraus, mit welchem Kurier es gekommen ist. Wer es abgegeben hat, musste beim Yard eine Bestätigung unterzeichnen. Wir werden ihn finden, Jessica.« Er war so nahe, dass ich die Wärme seines Körpers an meinem Rücken fühlen konnte. »Ich verspreche Ihnen, wir werden Louis finden.«
»Bitte«, flüsterte ich. »Können Sie mich eine Minute allein lassen.«
»Natürlich«, meinte Shirl und trieb sie alle vor die Tür. Ich fummelte an der Fernbedienung herum. Als ich endlich den Pausenknopf gefunden hatte, hielt ich das Bild an der Stelle an, an der Louis lächelte. Ich saß da und starrte ihn an. Betäubt vom Schock fixierte ich sein Gesicht.
Als Silver einige Zeit später fast lautlos zurück in den Raum kam, fuhr ich auf. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er leise und setzte sich hinter mich auf das Sofa. »Ich weiß, dass das ein Schock ist. Aber es tut doch gut, ihn zu sehen, oder nicht, Kindchen?«
Ich musste meine Augen mit Gewalt vom Gesicht meines Sohnes lösen, das immer noch auf dem Bildschirm vibrierte, und wandte mich an Silver. Shirl war hinter ihm ins Zimmer getreten. »Da ist etwas, Inspector Silver, das ich schon früher hätte erwähnen sollen.«
»Ach ja?«
»Als ich gestern vom Krankenhaus zurückkam, nach meinem … Sie wissen schon.«
»Weiß ich was?«
Ich räusperte mich. »Nach meinem Unfall.«
»Ah ja. Ihr Unfall.«
»Nun, ich bin ziemlich sicher, dass jemand in meinem Zimmer war. Meine Sachen durchwühlt hat.«
Jetzt hörte er mir gespannt zu. »Wirklich? Was für Sachen?«
»Nun, zum einen den Ordner, in dem ich meine Papiere aufbewahre. Ich habe Louis’ Pass gesucht, und der war auch dort, aber die Papiere waren nicht mehr in der richtigen Reihenfolge.«
»Aha.« Er runzelte die Stirn. »Das hätten Sie mir sofort sagen sollen.«
»Tut mir leid.«
»Es ist mein Fehler«, fiel Shirl verlegen ein. »Ich sagte ihr, dass sie sich alles nur einbilde.«
»Aha«, sagte er. »Nun, nächstes Mal kommen Sie damit zu uns, in Ordnung, Jessica? Aus diesem Grund sind wir hier.«
»Natürlich. Das werde ich. Ich hätte es Ihnen sofort sagen sollen. Jetzt ist mir das klar. Es war mein Fehler, Shirl kann nichts dafür.«
»Nun ja, es Ihre Aufgabe, uns über alles zu informieren. Ich werde die Jungs von der Spurensicherung herholen.«
Ich errötete. »Alles klar.« Wenn ich stand, war ich auf Augenhöhe mit den Kratzern auf seiner Wange. »Auf der Party muss es ja hoch hergegangen sein«, zog ich ihn unwillkürlich auf.
»O ja«, flüsterte er leise zurück, sodass nur ich es hören konnte. »War eine echte kleine Wildkatze. Sie hat mich gekratzt, als ich sie heute Morgen aufweckte.«
Die Röte auf meinen Wangen wurde noch tiefer. Ich wandte mich ab.
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