Morgen früh, wenn Gott will
Hochglanzbroschüren aus dem Reisebüro brütete, die ich in der Mittagspause aus dem Thomas-Cook-Büro in der Fußgängerzone holte. Überall wollte ich sein, nur nicht dort, wo ich war. Leigh in der sechsten Klasse, vollkommen blond und perfekt in ihrer Schuluniform, das Haar glatt gekämmt, mit zart pinkfarbenem Lippenstift. Die anderen Mädchen meines Jahrgangs hatten meine coole ältere Schwester stets bewundert. Leigh, die einen Maschinenschreibkurs in der Oxford Street belegt hatte und mit ihren hohen Absätzen schon vollkommen erwachsen wirkte. Die sich an ihrem neunzehnten Geburtstag mit Gary verlobte. Ich, die ich mir schwor, niemals diesen Weg einzuschlagen. Ich plante meine Flucht. Plante immer irgendetwas. Plante, Kunst zu studieren. Meine Kunstlehrerin gab mir abends Extrastunden, weil sie mich für begabt hielt. Ich sah mich in Wollpullover und schwarzer Baskenmütze, wie ich bis in die Morgenstunden Absinth und billigen Rotwein trank, umgeben von jungen Männern mit düsterem Blick und leidenschaftlichem Gehabe, von Mädchen mit Zigarettenspitzen, die redeten wie Audrey Hepburn und ständig »Darling« sagten. Ich sah mich, wie ich mein Examen versiebte, weil ich mich zu sehr in einen Jungen verliebt hatte, der mir das Herz brach, weil ich einen Ersatz für meinen Vater suchte. Irgendetwas, was das tiefe Loch in meinem Herzen füllen würde. Wie ich immer noch litt an dem Albtraum, der mich mit siebzehn erschüttert hatte, als die Polizei kam und das Haus durchsuchte, obwohl mein Vater längst verschwunden war. Mich, wie ich wegen meiner Mutter kein Kunststudium aufgenommen hatte. Weil meine Mutter mit dem Leben nicht mehr alleine fertig wurde – nicht, nachdem die Polizei alles durcheinandergebracht hatte. Ich musste mir einfach einen Job suchen. Ich musste Geld verdienen, damit sie nicht unterging. Denn Leigh und Robbie waren weg. Ich, die ich hinter dem Schalter von Thomas Cook in der Fußgängerzone landete, ausgerechnet an dem Ort, an dem ich einst gedachte, meine Reisen zu buchen, meine eigenen, nicht die Kreuzfahrten anderer Leute oder deren zwei Wochen in Benidorm. Ich, die ich eine schreckliche Nylonuniform trug und nicht den meilenweit nach Künstlerin riechenden Wollpullover, den ich mir immer vorgestellt hatte. Und schon gar keine Baskenmütze. Wohl kaum das, was ich geplant hatte. Eigentlich so gar nicht das, was ich geplant hatte.
»Verdammt.«
Eines der Fläschchen war Shirl entglitten, die Essenz schuf eine kleine Ölpfütze auf dem Boden. Ein Duft von Orangen, bei dem ich an Weihnachten denken musste, verbreitete sich im Raum. Einen Augenblick lang starrte ich das Foto von Louis an, das von der Wand auf uns herabsah. Wir hatten noch nicht einmal zusammen Weihnachten gefeiert. Zum x-ten Mal an diesem Morgen warf ich einen Blick auf die Uhr. »Komm schon, Deb«, flehte ich in Gedanken, wobei ich vorsichtig Shirls T-Shirt wendete.
»Ich dachte nicht, dass ich jetzt schon Kinder haben würde. Ich dachte immer: ›Nicht vor dreißig.‹ Außerdem wollte ich nicht unbedingt welche. Nicht nach dem, was ich mit meiner Mutter und meinem Vater erlebt habe.« Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass auch Louis nicht zu meinem Plan gehört hatte. Über die Wut, die ich empfand, weil ich mich so schnell von meiner eigenen Dummheit hatte einfangen lassen.
»Nun ja, ich hätte auch nicht geglaubt, dass du mit einem Bügeleisen umgehen kannst. Und siehe da! Lieber Himmel, ich glaube, mein Lavendel ist alle.«
Im Stillen dankte ich ihr, dass sie mich aus meinem Gedankenkarussell holte. Und mich vergessen ließ, dass ich im Augenblick nichts weiter war als ein schluchzendes, seufzendes Wrack. »Bis ich Mickey kennen lernte, dachte ich überhaupt nicht an Kinder.«
»Das passt ja.«
»Obwohl Jean fast die ganze Büglerei erledigt«, fing ich mich gerade noch. Dieses Mal lächelte Shirl.
»Ich lausche Euren Worten, Herrin dieses edlen Hauses.«
Ich lief rot an. »Ich höre mich an wie eine Irre, nicht wahr?«
»Du hörst dich an wie du selbst, Liebes. Nicht wie eine Irre.« Sorgfältig stellte sie ihre Aromaölfläschchen in ihre Box zurück. »Nur manchmal hörst du dich ein ganz kleines bisschen an wie …«
Ich bügelte den zweiten Ärmel fertig. »Wie wer?«
»Wie er.«
»Nun, das ist doch nur natürlich, oder?«
»Ist es das?«
»Er hat eben einen starken Charakter.«
»Das kann man so sagen.«
Plötzlich kam ich mit der Spitze des Bügeleisens an die Innenfläche meines
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