Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
Vom Netzwerk:
Handgelenks. Es brannte höllisch. »Au. Verdammt, ist das heiß. O Gott, wo bleibt Deb heute nur?« Ich reichte Shirl das fertig gebügelte T-Shirt. »Weißt du, was mich am meisten nervt? Davon abgesehen, dass ich mich wie Scheiße fühle, wenn ich daran denke, wie oft ich lieber tanzen gegangen wäre statt mit Louis daheim zu sitzen.«
    »Alle frisch gebackenen Mütter kennen dieses Gefühl.«
    »Wirklich?«
    »Natürlich. Wenn jemand das Gegenteil behauptet, lügt er. Und außerdem«, Shirl zog das T-Shirt an, »tun es ein paar ja auch. Manche Mütter bleiben nie mit ihren Kindern daheim.« Sie erwähnte es nicht eigens, aber ich wusste, dass sie dabei an meine Mutter dachte.
    »Das Schlimmste am Ganzen ist dieses ewige Warten. Dieses dauernde Gefühl, dass ich absolut hilflos bin, dass ich nichts, aber auch gar nichts tun kann.« Ich lehnte mich über das Bügelbrett und zog den Stecker heraus, der Rand des Bretts presste sich in meine Brust. »Dass ich von Pontius zu Pilatus laufen und ihn suchen könnte, ohne dass es etwas bringt. Dass er ganz in der Nähe sein könnte, doch wenn die Person, die ihn entführt hat, nicht auftaucht, keinen Fehler macht oder vielleicht ihre Meinung ändert, dann habe ich nicht die leiseste Hoffnung, ihn zu finden.«
    Shirl hängte ihre Tasche über die Sessellehne und umarmte mich. »Du tust dein Bestes, Kleines. Hack deswegen nicht auf dir herum.«
    »Ich versuche es ja, aber es ist so verdammt schwierig, Shirl.
    Dauernd denke ich darüber nach, was ich hätte tun können, damit es nicht passiert wäre.«
    »Jess, es ist nicht dein Fehler. Du hast hier keine Schuld. Das weißt du doch, Mädchen, oder?« Sie küsste mich auf die Stirn und warf einen Blick auf die Uhr. »Verdammt, ist das schon spät. Dann muss ich mich ja beeilen.«
    Als Shirl zehn Minuten später ging und die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, ließ der Luftzug die Kopien, die ich von Louis’ Foto gemacht hatte, durch den Flur und dann zu Boden flattern. Eine hielt ich mit dem Fuß fest. Ich betrachtete Louis’ Gesichtchen. Dann griff ich zum Telefon und rief Deb an, doch sie ging nicht ran. In der Küche fand ich Tesafilm und Schere. Ich nahm meine Tasche und hinterließ Deb eine Nachricht, dass ich bald zurück sein würde.
    Ich trottete durch die glühend heißen Straßen und befestigte ein Bild an jedem Laternenpfahl, jedem Verkehrszeichen, das ich finden konnte. Die neugierigen Blicke der Passanten ignorierte ich, während ich gleichzeitig gegen das vernichtende Gefühl ankämpfte, dass alles, was ich da tat, ohnehin vollkommen sinnlos sei. Ein Typ im Auto blieb stehen und ließ sein Seitenfenster hinab, wobei er auf meine immer noch stark angeschwollenen Brüste starrte. Irgendwie lag eine anzügliche Bemerkung in der Luft, also verpasste ich ihm meinen Todesblick, und er rauschte ab, eine Wolke Dieselduft hinter sich lassend. Bei jedem Haus, an dem ich vorüberkam, fragte ich mich, ob Louis wohl dort sein mochte. Und so arbeitete ich mich bis nach Greenwich vor, wo ich mit meiner letzten Kopie vor der Buchhandlung in der High Road stehen blieb. Ich sah mich um und beschloss dann, sie an den Glasscheiben der Bushaltestelle vor der Sprachenschule festzukleben. Es sah lächerlich aus. Das Bild rollte sich in der Hitze schon ein bisschen ein, Louis’ kleines Gesicht wirkte verschwommen, und darunter tanzten die riesigen Lettern, in denen ich meine Botschaft verfasst hatte: »SEIT FAST SECHS TAGEN VERMISST«. Hatte ich wirklich geglaubt, jemand würde sich darauf melden?
    Mittlerweile war mir so heiß, dass mein Haar mir am Kopf klebte und ich kaum noch Luft bekam. Wieder einmal hatte ich den Inhalator vergessen. Der Weg zurück in der noch zunehmenden Hitze würde schrecklich werden, also ließ ich mich im Häuschen der Bushaltestelle auf einen der Plastiksitze sinken und wartete auf einen Bus, der zu mir nach Hause fuhr. Neben mir schnatterte aufgeregt eine Gruppe ausländischer Studenten. Sie tranken Limonade aus grün schimmernden Dosen und schubsten einander gefährlich nahe an die viel befahrene Straße. Neben den jungen Leuten stand eine junge Frau mit Kopfschleier und einer für diese Hitze mörderischen Anzahl Kleidungslagen. Sie trug ein Baby auf dem Arm. Dabei nahm sie eine sehr vorsichtige Haltung ein, fand ich. Mein Magen zog sich zusammen wie jedes Mal, wenn ich ein Kind sah, das vom Alter her meines hätte sein können. Ich trat einen Schritt näher und sah das Kind an. Ein Mädchen mit

Weitere Kostenlose Bücher