Morgen früh, wenn Gott will
nicht, dass du dich darum kümmerst, vor allem jetzt, wo du nach dem Baby suchst …« Sie sagte das so, als habe ich mein Kind wie einen Schlüsselbund in einem Moment der Geistesabwesenheit irgendwohin gelegt und wüsste nun nicht mehr wo. »Aber er sagte, er habe im Moment kein Bankkonto. Ich nehme mal an, das ist, weil er im Ausland war. Oder was glaubst du?« Wieder nahm sie einen Schluck. Dann sprach sie hastig weiter. »Georgie meint, wir könnten ihm Geld leihen. Ich war ja so erleichtert, als er zugestimmt hat.«
Leihen! Robbie? Meine Geduld neigte sich nun definitiv dem Ende zu.
»Du meinst wohl schenken, Mama, nicht wahr?«, seufzte ich.
»Wieso?«
»Ihm Geld schenken. Nicht leihen. Du weißt genau, dass du es nie mehr zurückbekommst.«
»Ach, Jessica. Jetzt sei doch nicht so. Er ist … er ist immerhin dein kleiner Bruder.«
»Ja, Mama. Und du weißt genau, dass ich alles für ihn tun würde. Aber ich bin eben realistisch. Es ist nur, Mama, ich habe mich gefragt …« Ich hielte inne.
»Was, Kleines?«
»Nun, findest du nicht, es ist ein bisschen seltsam, dass er gerade jetzt auftaucht? So aus heiterem Himmel? Gerade jetzt, wo alles so schrecklich ist?« Nun hatte ich endlich ausgesprochen, was mir die ganze Zeit schon auf der Seele lag. Das, was ich zu Leigh nicht hatte sagen wollen, weil ich wusste, dass sie längst bedeutend weniger schmeichelhafte Schlussfolgerungen gezogen hatte, als ich es je fertiggebracht hätte.
»Er sagte, er habe dich im Fernsehen gesehen, Jessie, Liebes. Er sagte, du hättest so traurig ausgesehen, dass er einfach kommen musste.«
Fast wäre ich darauf hereingefallen. Ich wollte es einfach so. »Nun, ich war jahrelang traurig, weil er so einfach verschwunden war. Was ihn nicht zurückgebracht hat. Wir waren alle traurig, nicht wahr, Mama?«
»Ja«, stimmte sie mir zu. »Ich war sehr traurig. Aber …«Ihr Tonfall hellte sich auf. »… jetzt ist er doch wieder da. Er ist gekommen, weil er dir helfen will, das Baby zu finden.«
»Hat er dir das gesagt?« Das Schweigen zog sich in die Länge. »Mama?«
»Ja, so in etwa.«
»Mama, was hat er genau gesagt? Hat er irgendetwas über Louis gesagt?«
Ich wartete, während sie sich eine Zigarette anzündete. Ich dachte schon, sie hätte es aufgegeben.
»Mama!«
»Was?«
Ich hörte das Klingeln von Eiswürfeln in einem Glas, dann schluckte sie offenkundig. Mehr als einmal.
»Du bist nicht ganz ehrlich zu mir, Mama. Ich weiß das. Du musst mir sagen, was Robbie gesagt hat. Du kannst ihn nicht immer decken.«
»So ein Unsinn. Das tue ich doch gar nicht. Alles, was dein Bruder gesagt hat, war, dass er Louis zurückholen wolle.«
»Aber warum bemüht er sich überhaupt darum? Er hat das Baby doch nie gesehen.«
»Wie kannst du nur so etwas sagen, Jessica? Louis und er sind schließlich blutsverwandt.« Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Mutter sei in den Londoner Gangstergeschichten der Sechzigerjahre stecken geblieben. Sie dachte immer noch, das Leben sei wie in Allein gegen die Mafia. »Er liebt das Kind wie du. Blut ist dicker als Wasser, das weißt du doch.«
Ich widerstand der Versuchung, sehr laut zu schreien. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, wie tief ihr Sohn gesunken war, doch sie plapperte einfach weiter. »Außerdem«, hörte ich sie predigen und wappnete mich gegen eine ihrer besonders tiefgründigen Weisheiten, »möchte ich ihm Geld schicken, du weißt schon. Damit er sich über Wasser halten kann, solange er einen Job sucht und dir hilft.«
Ich schickte einen verzweifelten Blick gen Himmel.
»Mama, du hast mir nicht gesagt, dass du wusstest, dass es ihm gut geht.«
»Wann?«
»Er sagte, er habe dich letztes Jahr einmal angerufen. Daher wusste er auch, dass ich geheiratet hatte.«
»Hat er das? Ich kann mich gar nicht erinnern.« Sie log, und wir beide wussten das. »Hier – rede du mal mit Georgie. Ihr könnt das unter euch ausmachen.« Wie immer gab sie alle Verantwortung ab.
»Mama …«
»Und mach dir nicht zu viele Sorgen, Liebes. Ich bin sicher, es ist alles bald wieder in Ordnung. Bleib schnell noch dran, okay?« Ich konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören, als sie den Hörer weiterreichte. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht zugeben, dass sie im Laufe des letzten Jahres mit Robbie gesprochen hatte.
»Jessica!« Georges’ fröhlicher Tonfall brach sich durch das Telefon Bahn. Ich mochte George. Er war wie ein großer, tapsiger Bär aus dem Kinderfernsehen. Eine Art
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