Morgen früh, wenn Gott will
einfach Louis’ Mutter war und keine Zahl in der Verbrechensstatistik dieses Landes.
»Er hätte eigentlich arbeiten müssen, doch wir sind stattdessen in die Oper gegangen.« Vor dem Hintergrund der darauffolgenden Ereignisse hörte sich das natürlich fürchterlich an. War es wirklich erst so wenige Tage her, dass mich so banale Sorgen wie die um mein Gewicht umgetrieben hatten? Und warum zum Teufel war ich überhaupt ausgegangen, statt den Abend zu Hause mit Louis zu verbringen, selbst wenn dies ohnehin nur selten vorkam? Statt – wieder machten sich die nagenden Schuldgefühle bemerkbar – wie der Blitz aus der Tür zu schießen, sobald ein paar Stunden nur für mich in Sicht waren? Ungeduldig schüttelte ich den Kopf.
»Mickey war ein paar Tage weg gewesen. Er hatte einen Fototermin für eine Broschüre mit dem Titel »Romantische Räume«. Eigentlich hätte es spät werden sollen, aber dann rief er mich am Nachmittag an und sagte, wir sollten uns in der Stadt treffen. Wir haben Madame Butterfly gesehen.« Ich plapperte sinnlos vor mich hin. »Eigentlich finde ich Oper ja nicht so gut, aber es war so ein Last-Minute-Ding. Eine Galanacht. Seine Firma hat das arrangiert. Ich gehe sonst nie zu so etwas.«
»Und wer ist Agnes?«, fragte er. Mein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus.
»Was?« Ich musste ihn falsch verstanden haben.
»Agnes. Wer ist sie? Wissen Sie das? Wir haben gerade Mickeys privaten Terminkalender bekommen, von einer Frau namens …« Ich hörte, wie er blätterte. »… Pauline. An dem Abend bevor Louis verschwand, hatte Mickey eine Verabredung mit jemandem namens Agnes.«
»Sind Sie sicher?«, flüsterte ich. Ich erinnerte mich, dass Mickey erst in der Pause in unsere Loge gekommen war, scheinbar direkt vom Zug. Die abendliche Hitze hatte ihm einen Schweißfilm über die Stirn gelegt, er sah für seine Verhältnisse ungewohnt nachlässig aus. Deb sah mich besorgt an.
»Hier steht es schwarz auf weiß, Jessica. Können Sie uns vielleicht weiterhelfen? Ich muss so schnell wie möglich alle unwichtigen Fakten aussondern, und ich kriege diese Pauline einfach nicht ans Telefon.«
»Ja. Bedauerlicherweise kann ich das.« Meine Oberlippe war kühl, weil sich Schweiß dort angesammelt hatte. »Agnes ist …« Meine Stimme brach. Ich räusperte mich. »Agnes ist Mickeys Ex-Frau. Ich dachte, sie … sie lebt im Ausland. Ich habe sie nie kennen gelernt.«
»Alles klar, Kind …« Bevor es noch ganz draußen war, riss er sich zusammen. »Sehr gut. Wissen Sie denn etwas über dieses Treffen? Ihrem Tonfall nach zu urteilen ist dies nicht der Fall.«
»Gut geraten.« Ich kaute an meinem Daumen herum und wich Debs besorgtem Blick aus. »Soweit ich weiß, hat Mickey Agnes nicht mehr gesehen, seit wir uns kennen gelernt haben. Ich bin sicher, es ist ein Irrtum. Kann Pauline Ihnen denn nicht helfen, sobald Sie wieder da ist?«
»Das werden wir sehen«, meinte er und hängte ein.
Zwei Dinge machten mir Sorgen. Zum einen, warum Pauline sich nach ihrer Rückkehr nicht gemeldet hatte. Zum anderen, und das war weit ärger, die Frage, wieso zum Teufel Mickey sich hinter meinem Rücken mit seiner Ex-Frau traf. Mit zittrigen Händen rief ich sein Büro an, doch dort sagte man mir, dass Pauline vor morgen nicht zurück sein würde.
»Ich gehe ein bisschen spazieren«, sagte ich lässig zu Deb. Sie fuhr sich mit den Händen durch den dichten Haarschopf. »Finden Sie das klug?«
Ich sah sie bittend an. »Ich muss jemanden aufsuchen.«
Ihre Augenbrauen wanderten fragend nach oben. Eigentlich wollte ich ja nichts sagen, aber ich wusste, sie würde nicht nachgeben.
»Pauline. Mickeys Assistentin. Sie ist eine Freundin von uns. Anscheinend ist sie aus den Ferien zurück. Da gibt es ein paar Dinge, die ich sie gerne fragen würde. Nichts, was Louis betrifft.«
»Ich möchte trotzdem mitkommen. Ich leiste Ihnen einfach Gesellschaft.«
Und so geschah es am Ende auch. Ich rief Pauline an und behauptete, ich sei gerade in der Nähe, ob ich denn nicht auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen könne. Dann fuhr ich mit Deb zum Londoner Bahnhof Kings Cross. Doch als wir zu Paulines Wohnung kamen, bat ich sie, mich allein zu lassen.
»Bitte, Deb«, sagte ich und sah ihr direkt in das liebe, freundliche Gesicht. »Ich brauche auch mal ein wenig Abstand. Und das ist etwas sehr Persönliches. Geht das?« Ich ging allein zu Pauline hinauf.
Pauline lebte in einem bewachten Wohnblock am alten Kanal. Ich war schon einmal hier
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