Morgen früh, wenn Gott will
letzte Nacht, da bin ich wirklich ausgerastet.«
»Vergessen Sie’s, Kindchen. Es ist nur frustrierend, wenn man feststellt, dass man nicht alle Fakten kennt, wenn …«
»Sie hat so verdammt viele Freunde, dass ich den Überblick verloren habe …« Mir blieb die Stimme weg. »Lieber Gott, Silver, ich sterbe, wenn Louis etwas geschieht, weil ich etwas vergessen habe.« Ich spürte, wie Hysterie in mir aufkam, und kämpfte sie wieder nieder.
»In Ordnung, Kindchen. Beruhigen Sie sich, okay?«
»Bitte nennen Sie mich nicht immer Kindchen. Ich hasse das. Es ist so verdammt herablassend. Was, wenn der Typ Louis hat, Silver? Was dann? Wer ist dann schuld?« Ich legte die Hand auf den Türgriff. »Bitte, lassen Sie mich raus.«
»Keine Dummheiten, bitte.« Er schaltete die Zentralverriegelung ein.
»Ich muss nur eine Minute lang allein sein.«
»Ich glaube nicht, dass Sie das müssen. Sie haben jetzt einfach Panik.«
War das ein Vorwurf? Ich konnte wirklich nicht mehr sprechen. Und so stotterte ich: »Lassen Sie mich raus, bitte, machen Sie auf. Lassen Sie mich raus, oder ich …«
»Was?« Er lenkte den Wagen auf eine schmale Straße, die über die Heide führte. Wieder riss ich am Türgriff. Er beugte sich zu mir herüber und hielt meinen Arm fest. Ich konnte ihn riechen, den Schweiß unter dem ewigen Aftershave. Ich sah die Schatten unter den Augen, die gelben Sprenkel in der haselnussbraunen Iris, die silbernen Fäden im kurz geschnittenen dunklen Haar. Und dann hatte ich einen Augenblick lang das Gefühl, er würde mich küssen. Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern und eine Lust im Bauch, die ich seit Louis’ Geburt nicht mehr gefühlt hatte. Eine Sekunde lang starrte ich Silver an, eine Sekunde, die sich endlos dehnte, dann drehte ich mich wieder zur Autotür um und schrie: »Lassen Sie mich raus.« Was er schließlich auch tat. Er entriegelte die Tür, und ich sprang hinaus, riss mich von ihm los, stolperte, lief und stürzte beinahe. Dann ließ ich mich in die ausgetrocknete Heidelandschaft fallen, fühlte das dürre Gras unter mir und sah die Sykomoren, die sich weit in den Himmel reckten, während sie einen süßen Duft verströmten, um scharenweise Insekten anzulocken.
Ich weinte fast vor Kummer und Zorn, als ich hörte, wie er meinen Namen rief, nur einmal. Fast hätte ich zurückgeblickt, doch ich ertrug es nicht. Ich hielt es nicht aus zu sehen, wie erschüttert er war, gerade jetzt, wo ich mich so vollständig auf ihn verlassen musste. Und dann wurde mir klar, dass er auch nur ein Mensch war, aber eigentlich wollte ich das jetzt gar nicht wissen. Ich hatte das Gefühl, Mickey zu betrügen, aber vor allem meinen Louis. Und am lächerlichsten waren diese ungebetenen Lustgefühle. Als ich über die Heide zu meinem Haus ging, drängte sich mir immer wieder ein Satz auf die Lippen: »Es tut mir leid, Louis, so leid, Louis. Es tut mir leid, mein Baby.« Und ich weinte heiße Tränen.
Silver folgte mir nicht.
Als mein Haus in Sichtweite kam, sah ich einen Mann, der hinter Maxine aus der Haustür trat. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es der Polizist mit dem Kugelbauch war. Er brachte mein Au-pair-Mädchen zum Wagen. Silver nahm die Sache also ernst. Ich stapfte über den gepflasterten Hof, als der große Wagen aus der Einfahrt rollte. Maxines runde Augen glitten teilnahmslos über mich hinweg. Sie sah nicht sonderlich besorgt aus, aber so war sie nun einmal, Maxine mit ihrer seidenweichen, aber dickfelligen Haut.
Deb wartete in der Küche auf mich. Sie wirkte nervös.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie und warf mir einen Seitenblick zu. Ich war vollkommen durchgeschwitzt. Mein Kleid klebte an mir wie eine zweite Haut. Die Erschöpfung schien ihre gierigen Finger mittlerweile nach meiner Seele auszustrecken. Ich öffnete den Kühlschrank. »Es geht mir gut, Deb, wirklich.«
»Inspector Silver hat eben angerufen. Er hat eine Nachricht für Sie hinterlassen.« Deb drückte mir ein Blatt Papier in die Hand, während ich eine halbe Flasche kühlen Wassers in einem Zug in mich hineinschüttete. Ein Triumphgefühl überkam mich. Er wollte sich wohl entschuldigen. Dann las ich die Nachricht. Aber ich verstand sie nicht.
Silver nahm beim ersten Klingeln ab. »Wissen Sie noch, wo Mickey in der Nacht war, bevor er mit Louis verschwand?«, fragte er unvermittelt.
Er hatte nicht vor, sich zu entschuldigen. Sehnsüchtig dachte ich an die Zeit zurück, als alles noch in Ordnung war, als ich noch
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