Morgen ist der Tag nach gestern
hatte ich den Eindruck, er führe das beschauliche Leben eines gut situierten Pensionärs. Er verbrachte seine Tage in Cafés, auf dem Golfplatz, in der Sauna und auf der Pferderennbahn. Abends besuchte er offensichtlich regelmäßig eine noble Bar am Stadt-rand. Überall schien er bekannt und gerne gesehen zu sein. In der Bar wurde er wie ein Stammgast begrüßt
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Am dritten Abend ließ Horstmann sich gegen zwei Uhr morgens ein Taxi kommen und fuhr mit einem jungen Mäd-chen zu sich nach Hause. Ich blieb noch und kam mit der Frau hinter der Theke ins Gespräch. Ich fragte vorsichtig nach dem Gast, der gerade in Begleitung weggefahren war. Der zahlt gut, sagte sie lapidar. Will immer nur die Jüngsten, aber wenn sie mit ihm nach Hause gehen, lässt er sich nicht lumpen. Und dann schob sie, so als würde sie meine nächste Frage schon ahnen, hinterher: Nein, keine Sonderwünsche, keine Minderjährigen oder so. Er mag sie einfach jung, das ist alles
!
Die Morgensonne schiebt sich nun endgültig am Ende der Welt über den Rand.
Wieso glaubt er, dass dies sein letzter Tag sein wird? Wie kommt er darauf, dass er dieses Schauspiel heute zum letzten Mal sieht?
Irritiert schüttelt er den Kopf. Es ist diese Gleichgültigkeit. Diese stumpfe, bleierne Schwere, die an seinem Körper hängt wie Sandsäcke am Korb eines Ballons. Was würde noch zu tun bleiben, wenn er alles niedergeschrieben hätte?
Am 21. Juni 2001 war es gewesen, als habe man eine Uhr angehalten. In diesem Vakuum, in dem die schwebende Zeit hinuntergefallen war und kein Ticken mehr Orientierung bot, hatte er sich mühsam vorwärts bewegt. Weiter und weiter, getrieben von dem Gedanken, sie zu finden. Aber jetzt? Horstmann war tot! Kein Ort, an dem er suchen könnte!
Er greift zum Füller.
Ich blieb noch einen Tag in Düsseldorf, dann fuhr ich zurück und beschäftigte mich mit der Maria-Söder-Stiftung. Es war nicht einfach, Material über die Stiftung zu bekommen. Ich telefonierte mit einem Herrn Becker. Ich sagte ihm, ich hätte von der Stiftung gehört und würde gerne, bevor ich mich zu einer größeren Spende entschließen könnte, etwas Genaueres wissen. Drei Tage später bekam ich Post. Eine Auflistung der aktuellen Aktivitäten, Pressemitteilungen und Hinweise, wer Stiftungsmittel beantragen könne. Die Namen der Beiratsmitglieder, die Satzung und einige Ratgeber. Darunter auch: Sorgerechtsfragen nach der Scheidung multikultureller Ehen
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Ich rief Yildiz an. Wir trafen uns in einem chinesischen Restaurant. Er war auch dieses Mal in Begleitung, allerdings war nur ein Mann dabei. Sie tranken Tee und der Mann neben ihm beklagte sich über die schlechte Qualität. Nicht nur ich hatte Neuigkeiten
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Grefft hatte in Hannover eine Schule beobachtet und war über drei Tage einem Kind gefolgt: Farida. Ein zehnjähriges Mädchen mit einem kurdischen Vater. Die Mutter war geschieden und lebte dort seit sechs Monaten mit ihren Kindern unter falschem Namen. Ich wollte ihn fragen, woher er das denn schon wieder wusste. Aber dann hielt ich mich zurück. Er würde sowieso wieder nur von Kontakten und Gefälligkeiten reden
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Und dann sagte er: Grefft ist vor zwei Tagen in Kleve gewesen. In Ness. Ich wusste sofort, wo Grefft gewesen war. Ich brauchte es nicht aussprechen. Yildiz wusste es auch
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Wir hatten noch keine Beweise, aber wir wussten, dass das nur eine Frage der Zeit war
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Als ich mich von Yildiz an diesem Tag verabschiedete, hatte ich das sichere Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich weiß noch, dass ich im Auto saß und dachte: Ich finde dich, mein Augenstern. Jetzt finde ich dich
!
Der Tag ist nun zur Gänze da. Mit seiner Hitze und mit seinem gleichmäßigen Sirren. Jetzt, in den frühen Morgenstunden kann man die Vögel noch hören. In gut einer Stunde wird es totenstill sein. Die Stille der Helligkeit. Die Stille des geduckten Wartens. Sein geübtes Gärtnerauge sieht die feine Nuance im makellosen Blau. Es wird Gewitter geben. Gott sei Dank. Endlich ein Gewitter!
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Böhm geht die Liste der Beiratsmitglieder durch, die Steeg nach seinem Besuch bei Karl Becker in die Informationsdatei „Horstmann“ eingegeben hat. Weitere Mitglieder des Beirates sind Werner Sander, Schuldirektor a.D. aus Moers, Erich Peters, Rechtsanwalt in Wesel, Ilona Maeschke, ärztin in Kleve und Werner Becker, Juwelier in Uedem.
Böhm greift zum Telefon und ruft Ilona Maeschke an. Den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, das Freizeichen im Ohr, sieht er
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