Morgen ist der Tag nach gestern
Tatort.“
Böhm schlägt mit der flachen Hand entschieden auf die Tischplatte. Das ist nicht seine Art. Das schafft nur Steeg, ihn dermaßen aus der Reserve zu locken.
Er brüllt.
„Das ist jetzt wohl nicht dein Ernst. Du gehst zu weit, Achim. Du weißt ganz genau, dass die Kollegen erst gestern Abend den Keller betreten konnten. So kommst du nicht aus dieser Nummer raus! So nicht!“
Steeg schluckt.
„So hab ich das nicht gemeint. Ich … Scheiße, das war wirklich ein Missverständnis. Wir hatten gestern Abend im Verein eine Vorstandssitzung und … Mann, ich habe wirklich gedacht, dass ihr die Rufbereitschaft auch macht.“ Er reibt sich über die Stoppelhaare und starrt auf die Schreibtischplatte.
Böhm atmet tief durch. „Achim, so geht das nicht. Du hast nicht um die Übernahme der Rufbereitschaft gebeten, und das weißt du genau. Wir sind nur eine kleine Truppe und können uns niemanden leisten, dem die Spielregeln egal sind.“ Er hat zu seiner Ruhe zurückgefunden.
Steeg starrt weiter auf die Schreibtischplatte.
„Tut mir leid!“, nuschelt er auf den Tisch. Er ist nicht in der Lage Böhm dabei anzusehen. Aber das erwartet der auch nicht. Dieses „tut mir leid“ allein, ist schon eine Höchstleistung für Steeg.
Jetzt hebt er den Kopf und sieht Böhm direkt an.
„Ich bring das in Ordnung. Auch bei Lembach.“ Böhm traut seinen Ohren nicht. Langsam nickt er Achim zu. „Okay! Lassen wir es damit gut sein, aber in aller Deutlichkeit Achim: Noch einmal so ein Vorfall und du bist raus.“
Steeg nickt betreten.
Böhm wendet sich wieder seinem PC zu, an dem am unteren Rand eine kleine holländische Fahne ihn darauf aufmerksam macht, dass eine neue E-Mail eingegangen ist.
„Es hat sich einiges im Fall Horstmann getan. Joop und Sabine Ecks überprüfen gerade die Stiftung. Wir treffen uns um halb drei unten im Konferenzraum. Bis dahin setz dich an deinen PC und bring dich auf den neusten Stand.“
Steeg verlässt eilig das Zimmer. Böhm spürt, wie ihm der Schweiß den Rücken herunter läuft. Diese Hitze und dann so eine Auseinandersetzung. Beides ist ihm unerträglich.
Er steht auf und geht zum Fenster. Da sieht er es. Da spürt er es. Ein leichter Wind geht durch die Äste der Ulmen und erreicht das geöffnete Fenster. In der Ferne, hinter den geduckten Häusern an der anderen Seite des Marktplatzes hat der Himmel sein Blau verloren.
39
Er hat gearbeitet. Er hat Protokolle gesichtet, telefoniert, die Fakten sortiert, die Ereignisse aneinander gereiht. Steeg verschafft sich im Nebenzimmer eine Übersicht. Die Türen stehen offen. Er hört ihn: „Das gibt’s doch gar nicht!“ und „Is ja wohl nicht wahr!“ ausrufen.
Warum kann er in diesem Fall keine Linie erkennen? Warum gibt es all diese Ungereimtheiten und Widersprüche?
Die Hitze liegt auf dieser Horstmanngeschichte, wie ein böses Omen. Die Hitze des Sommers. Die Hitze des Feuers. Es ist, als bewege man sich in einem Vakuum. Es ist, als könnten die Informationen seinen Verstand nicht wirklich erreichen.
Erst jetzt fällt ihm auf, dass das Licht sich verändert hat. Am anderen Ende des Marktplatzes, über den geduckten, roten Backsteinhäusern, schieben sich bleierne Gewitterwolken über die Stadt. Sie hängen so tief, dass er für einen Augenblick glaubt, sie könnten die Dachfirste mit sich reißen.
Eine Windböe rauscht durch die trockenen Ulmen, reißt die viel zu früh braun gewordenen Blätter mit sich und treibt sie über den Marktplatz.
Böhm geht zum Fenster. Der Wind ist warm. Die Wolken treiben immer weiter ineinander, haben jetzt diese drohende Dichte. Sie hängen so tief, wie man es nur über dem Meer oder hier, in dieser flachen Weite sehen kann. Donner rollt über die Stadt. Erst aus weiter Ferne, dann immer näherkommend schwillt die Bassstimme an und wird zum wütenden Brüllen. Blitze zucken auf, schießen aus dem wuchtigen Dunkel und erleuchten den Platz mit weißem, unwirklichem Licht. Vereinzelt fallen erste dicke Regentropfen auf das Pflaster und verdampfen ungesehen. Der Wind ist jetzt stärker. Böhm hört hinter sich Papiere auf dem Schreibtisch aufwirbeln und zu Boden fallen. Die Zimmertür schlägt zu.
Gierig saugt er die langsam kühler werdende Luft ein.
Er muss sich distanzieren. Er muss andere, neue Perspektiven in diesem Fall finden. Er ist ungeduldig. Er ist nie ungeduldig. Wieso jetzt? Weil ihm die Dinge so hingeworfen erscheinen. Weil er in diesem Puzzle die Randteile nicht finden kann.
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