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Morgen ist ein neuer Tag

Morgen ist ein neuer Tag

Titel: Morgen ist ein neuer Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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herangefahren. Es ist alles noch so wie früher … nur ich sitze nicht mehr hier am Fenster, und Linas Tellerklappern dringt nicht mehr aus der Küche …«
    Dr. Schrader hatte sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt und reichte eine Kiste Zigarren herüber. »Bitte, bedienen Sie sich, Herr Bergschulte«, sagte er dabei, und seine Stimme war belegt.
    »Danke, nein – lieber eine Zigarette.« Bergschulte nickte, als müsse er es bekräftigen. »Nach zehn Jahren wieder eine Zigarre – da baue ich glatt ab, Herr Doktor.« Er bekam von Dr. Schrader eine Zigarette und sog den Rauch voll Behagen in die Lunge. »Ein Kraut wie Opium, wenn man nur Machorka geraucht hat, gedreht in ein Stück Prawda. Mein Gott, was lernt man Kleinigkeiten schätzen, wenn man selbst das Primitivste nicht mehr haben konnte. Als ich nach vier Jahren Sibirien im Lager 4593 bei Ufa im Ural zum erstenmal wieder mit einer Gabel gegessen habe, mußte ich aufpassen, daß ich mich nicht in die Lippen stach. Und die ersten Stiefel nach sechs Jahren Filzlappen … Ich konnte nicht mehr gehen, hatte offene Fußsohlen …« Er sah zu Dr. Schrader auf. »Sie waren nicht in Gefangenschaft?«
    Dr. Schrader schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war Jurist beim Divisionsstab in Belgien. Aber ich weiß, was es heißt, in Rußland gefangen zu sein. Mein ältester Sohn –« er machte eine Pause – »blieb bei Stalingrad.«
    »Stalingrad – das Grab«, nickte Fritz Bergschulte. »Es gibt – glaube ich – keine Familie in Deutschland, in die der Krieg nicht Leid getragen hat.«
    »Haben Sie Ihre Frau gesprochen?« fragte der Rechtsanwalt, um sich und den anderen abzulenken.
    »Ja. Mein ehemaliger bester Kamerad hat sie geheiratet. Er überbrachte ihr meine Todesnachricht, obwohl er wußte, daß ich lebe.«
    »Wahnsinn!«
    »Lina brach zusammen, als sie mich sah. Sie will wieder zu mir zurück. Aber das Gesetz ist dagegen, das wissen Sie ja. Gültig ist die Ehe mit dem zweiten Mann. Und darum komme ich zu Ihnen, Herr Doktor. Sie müssen mir helfen, meine Frau wiederzubekommen.«
    Dr. Schrader wiegte den Kopf hin und her. Ein verteufelt komplizierter Fall, dachte er. Ein Fall, wie er in meiner Rechtspraxis noch nie da war. Ein Toter lebt, seine Witwe hat geheiratet, will aber zu dem lebenden Toten oder toten Lebenden zurück. Da sie in Unkenntnis handelte und eine amtliche Todeserklärung vorliegt, ist die zweite Ehe gültig, und der erste, wirkliche Ehemann gilt als tot, weil es so in den Akten steht. Er kann zwar nichts dafür, er hatte darauf keinen Einfluß, er war ja in Rußland, mundtot, im Schweigelager, lebendig begraben … aber darum kümmert sich das Gesetz nicht. Wochenlang hing er im Amtsgericht Vlotho und Minden am schwarzen Brett aus … Der Fritz Bergschulte soll für tot erklärt werden, wenn er sich (oder ein anderer sich für ihn) nicht bis zum soundsovielten rührt! Und der Fritz Bergschulte hatte sich nicht gerührt, und so war er eben tot.
    Dr. Schrader fühlte, wie ihm der Hemdkragen zu eng werden wollte. Das Gesetz, dachte er, das verfluchte Gesetz, das keine Regungen kennt, sondern nur nüchterne Bestimmungen. Und dagegen will der kleine Fritz Bergschulte angehen, daran will er sich den Kopf einrennen, gegen diese Macht des Staates und der Bürokratie will er Sturm laufen? Plötzlich sah Dr. Schrader, daß es in seinem Leben als Anwalt noch eine große, eine riesenhafte Aufgabe gab: diesen lebenden Toten zu helfen, diesen aus der Lebensgemeinschaft Ausgestoßenen ein neues Leben zu geben, das Gesetz zu zwingen, sich selbst zu widerrufen.
    Ein Kampf gegen die schrecklichste Macht auf dieser Welt: den Paragraphen …
    Dr. Schrader blickte Fritz Bergschulte an, der im Licht, das durch das Fenster hereinflutete, doppelt verhärmt und überdeutlich zerknittert aussah. Während Schrader noch eine Antwort suchte, spielte er mit einem Gesetzesband und hatte das Gefühl, daß ihm der Kragen noch enger wurde.
    »Ich will Ihnen helfen«, sagte er endlich langsam und jedes Wort betonend, als wolle er zeigen, welchen Kampf man gemeinsam auf sich zu nehmen gedenke. »Aber ich sage es Ihnen gleich, mein Lieber – es wird auf jeden Fall sehr, sehr schwer werden.«
    »Wir haben in Rußland wenig Hoffnung gehabt, jemals wieder ein deutsches Bauernhaus zu sehen oder über eine deutsche asphaltierte Straße zu gehen. Aber dieser Funke Hoffnung, der doch noch irgendwo in einem Winkel des abgestorbenen Herzens glomm, dieser heilige Funken Glaube hielt

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