Morgen ist ein neuer Tag
Mitte 50. Und dann stehen Sie wieder vor der gleichen Frage, vor den gleichen Problemen wie jetzt – ein Mensch, zurückgekehrt, seine Frau, sein Kind verloren. Aber dann sind es 25 Jahre oder noch mehr, Herr Bergschulte. Ist Ihnen das klar?«
»Sie mögen Recht haben.« Bergschulte wandte sich vom Fenster ab und reichte dem Anwalt die Hand. »Sehen Sie zu, was Sie tun können. Versuchen Sie alles – auch ich will auf meine Art dazu beitragen. Ich werde mir eine Stellung suchen, ich werde arbeiten wie ein Verrückter, ich werde keine Ruhe kennen – und ich werde wieder langsam, ganz langsam auf der Leiter des Lebens emporklettern und anfangen, wieder ein Mensch zu werden. Gott ist bei den Fleißigen, sagte einmal mein Lehrer, und er meinte nicht die Streber – wie wir es damals auffaßten – sondern die Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen und den Rohstoff Dasein zu einem Gebilde kneten, das ihnen gefällt. Der eine hat mehr, der andere hat weniger Geschick darin. Am Ende, wenn man uns drei Hände voll Sand auf den Sargdeckel wirft, sind wir doch alle wieder gleich. Ein Recht zur Kritik haben dann unsere Kinder, denn was wir ihnen hinterlassen, ist ihr Fundament. Und –« er warf den Kopf in den Nacken wie ein trotziger Junge, »ich habe einen Sohn …«
Als Fritz Bergschulte gegangen war, saß Dr. Schrader noch lange Zeit und blickte in das Zimmer und auf den Platz, auf dem sein neuer Klient gesessen hatte. Er kam sich vor wie ein Mensch, der an einer Wende seines Lebens steht. Viel Schicksale gehen durch die Hand eines Rechtsanwaltes – er sieht Höhen und Tiefen des Lebens und schlichtet, so gut er kann, oder trennt scharf und rücksichtslos, wo es keine Hoffnung mehr gibt, gleich einem Chirurgen, der ein faules Gewebe herausschneidet und versucht, dadurch den Körper zu heilen.
Aber heute hatte er mehr als ein Schicksal in die Hand bekommen. Heute ging es darum, ein ganzes Leben, das zwölf Jahre nur durch Hoffnung aufrecht erhalten worden war, vor dem Zusammenbruch zu retten, denn soviel hatte Dr. Schrader gesehen, daß Fritz Bergschulte am Ende seiner Kräfte war und mit der Hoffnungslosigkeit auch den letzten Halt verlieren und untergehen würde.
Gebe Gott, daß ich den Prozeß gewinne, dachte Dr. Schrader und stützte den Kopf in beide Hände. Es ist leicht, einen Menschen zu töten, wie Bergschulte getötet wurde, aber schwer, ihn wieder zu den Lebenden zurückzuführen. Lange wird er ein Fremder sein, ein Abgeschriebener, und er wird sich selbst in diesem Leben nur schwer wieder zurechtfinden, weil es ihm fremd geworden ist.
Er stand vom Schreibtisch auf und wanderte im Zimmer hin und her, mit kurzen Schritten, blieb hier und da einmal stehen, betrachtete, als sähe er sie zum ersten Mal, seine stattliche Bibliothek mit den vielen Kommentaren zu den Gesetzen, mit Handbüchern aus der Jurapraxis, mit Auslegungen von höchstrichterlichen Entscheidungen, mit Beschreibungen von Präzedenzfällen. Er sah die schön in Leder gebundenen Bücher des internationalen Rechts, der Haager Konvention, der englischen Justiz und der amerikanischen Rechte. Und nie zuvor hatte er so klar wie jetzt die Ohnmacht all dieser dicken Bände gesehen, die Sinnlosigkeit aller Kommentare und Zusätze. Hunderttausend Fälle steckten in diesen Paragraphen, ungeheure Schuld war zusammengetragen worden, um sie nach menschlichem Ermessen zu sühnen. Nach menschlichem Ermessen … Dr. Schrader mußte lachen. Gerade der Mensch ist es ja, der alle Grenzen der Ordnung sprengt, dachte er bitter. Und um diesen Menschen zu retten, bedarf es oft der Menschlichkeit, aber keiner Gesetze, die ein nüchtern-logisches Gehirn gebar. Jeder Jurist würde so denken, wenn er einen solchen Fall in der Hand hätte. Jeder Mensch mußte so fühlen, wenn er sah, wie ein Unrecht am Leben Gesetzeskraft erhielt.
»Ich werde es durchfechten!« sagte Dr. Schrader laut. Er stand am Fenster und blickte hinaus in die Dämmerung, die anfing, alle Blüten und Bäume wie in einen Schleier einzuhüllen. »Ich werde an diesem Fritz Bergschulte zeigen, wie weit die Grenzen unseres Schicksals gehen.« Er steckte die Hände in die Taschen und wippte auf den Zehenspitzen auf und nieder. Eine innere Erregung hatte ihn ergriffen, die ihm kribbelnd durch die Adern lief. »Vielleicht verliere ich den Kampf«, fuhr er fort und seine eigene Stimme kam ihm ungewohnt angriffslustig vor. »Vielleicht aber siege ich auch – und erringe einen Triumph, der ein
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