Morgen ist ein neuer Tag
Fritz am Lagertor stehen, während wir Entlassenen davonzogen. Er stand da im hohen Schnee, mager, vom Tode gezeichnet, vermummt in Wolldecken und Steppwesten, und er winkte mir nach, er, der Todgeweihte, winkte mir, der ich zurück in das Leben schritt, nach, und ich hatte in meiner Tasche seinen Brief an dich, von der er jeden Tag gesprochen und deren Bild er manchmal im Wald zwischen zwei Bäumen, die wir fällen mußten, aus der Tasche genommen und an die Lippen gedrückt hatte. Ich habe mich wieder gesehen, wie ich in Frankfurt an der Oder die ersten deutschen Zivilisten hörte, ihre ersten deutschen Heimatlaute, und wie ich weinte und in die Brusttasche griff, wo ich Fritzens Brief verwahrte. Das alles habe ich im Traum gesehen, und ich habe gestöhnt und mich hin und her gewälzt, wurde wach – aber dann sah ich dich an meiner Seite liegen, blond, schön, lächelnd im Schlaf, und ich habe die Zähne zusammengebissen und mir gesagt: Für diese Frau hättest du, wenn nötig, noch Schlimmeres getan!
Und ich habe geschwiegen und nur für dich gearbeitet, ich habe keine Ruhe gekannt, um dir alle Wünsche zu erfüllen, um es dir noch schöner zu machen, um dich glücklich zu sehen … Und du warst glücklich – o gib es doch zu, Lina … du warst wunschlos glücklich bis zu dem Tag, an dem Fritz zurückkehrte.« Er hob beide Arme und ließ sie wieder schlaff herunterfallen. Eine ganze Welt von Hilflosigkeit lag in dieser Bewegung. »Das allein ist meine Schuld, Lina … ich habe dich zu sehr geliebt … Und ich liebe dich auch heute noch so …«
Lina war in den breiten Sessel gesunken, der an einem Rauchtisch mit einer dicken Marmorplatte stand. Sie bedeckte die Augen mit den langen, schmalen Händen und schüttelte den Kopf.
»Und was … was soll nun werden?« fragte sie stockend. Schluchzen erschütterte ihren Körper. »Es kann doch so nicht weitergehen, Heinrich.«
»So nicht! Da hast du recht.« Korngold ging im Zimmer hin und her. Seine Schritte waren nervös und ungleichmäßig. »Bei dir liegt die Entscheidung, Lina – ich kann nicht mehr zurück, ich kann auf dich nicht verzichten. Solltest du das von mir verlangen, so verlangst du Unmögliches. Die Liebe zu dir war die ganze Kraft, die mich im Leben bisher vorantrieb.«
»Und Fritz? Er hat die anderen vier Jahre auch noch durchgestanden, weil er an mich glaubte. Und ich habe ihn verraten. Er hat zwölf Jahre am Rande des Abgrundes gelebt, hat es überstanden, weil auch er die große Hoffnung hatte, meine Liebe einst wiederzubekommen. Und ich hätte dich auch nie geheiratet, wenn ich gewußt hätte, daß Fritz noch lebt.«
»Das weiß ich. Darum ließ ich ihn sterben.«
»Fast wie ein Mörder.«
Das Wort stand im Raum und hallte in der Stille wider. Heinrich Korngold war zusammengezuckt und zog die Schultern hoch. Es war, als wachse sein Kopf plötzlich nach unten in den Rumpf, als sei er eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht.
»Es haben schon viele Männer um einer Frau willen Fürchterliches getan«, sagte er tonlos.
»Und sie alle traf die Sühne!« Lina war aufgestanden. Ihre Gestalt straffte sich. »Ich habe dir vieles zu danken, Heinrich. Du hast mich in der Zeit der Not ernährt, du hast den Jungen auf das Gymnasium geschickt, du hast aus einer Arbeiterfrau eine ›Frau Ingenieur‹ gemacht mit eigenem Wagen, einer feudalen Wohnung und wertvollem Schmuck und Pelzen. Nach den Jahren der Angst und Sorge hast du mir drei Jahre der Zufriedenheit gegeben. Und ich gestehe es, es war auch eine innere Zufriedenheit. Die Ungewißheit war von mir genommen. Fritz wird nie wiederkommen, das wußte ich von dir, und das Leben mußte weitergehen. Für diese Zeit, in der ich froh war, habe ich dir zu danken.« Sie wandte sich der Tür zu: »Aber nun – laß mich gehen …«
»Freiwillig? Nie!« schrie Heinrich Korngold. »Er hat kein Recht mehr auf dich!« Mit drei schnellen Schritten kam er ihr zuvor, erreichte die Tür und schloß sie ab. Knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloß, ehe er ihn abzog und in die Rocktasche steckte.
»Bitte laß mich hinaus«, sagte Lina leise. In ihrer Stimme lag eine versteckte Drohung, die durch die Verhaltenheit des Tones noch gefährlicher wurde. »Willst du einen Skandal haben? Soll ich einen Prozeß anstrengen, in dem deine ganze Lumperei an die Öffentlichkeit kommt? Willst du deine Stellung verlieren, überall verachtet werden, ein Schandfleck für diese Stadt?«
»Mir ist alles
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