Morgen ist ein neuer Tag
ausgegeben oder der Bauherr ist längst gestorben.« Er lachte und schob Fritz Bergschulte die Salami zu. »Probier mal, Junge. Importware aus Italien! Zergeht dir auf der Zunge!«
»Fürs Essen hast du ja immer das meiste Geld ausgegeben«, lachte Bergschulte und aß die Salami. »Also Arbeit hast du auch nicht?«
»Im Moment nicht. Aber das soll nicht heißen, daß es überhaupt keine Arbeit gibt. Bist du an Minden gebunden?«
Bergschulte schaute vor sich auf das Muster des großen Perserteppichs. Bin ich an Minden gebunden? dachte er. Lina hat einen anderen Mann, Peter, mein Junge, kennt seinen Vater nicht, die Schwiegereltern sind aus meinem Leben gestrichen, das Haus ist verkauft, und ich selbst, ich bin für alle, die ich einst liebte, tot! Amtlich tot! Kann einer ungebundener sein? Zwar will Lina wieder zu mir zurück, und Dr. Schrader hat auch ein wenig Hoffnung. Aber wenn ich den Prozeß gewinne, – was dann? Dann sitze ich in Minden und bin arbeitslos! Kann ich denn Lina und Peter und mich hier überhaupt ernähren? Mein Gott, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich muß ja erst selbst Boden unter den Füßen haben, ehe ich den sicheren Boden unter Linas Füßen wegziehe. Franz und Emma haben nicht ganz unrecht. Wie kann ich meine Familie wiederfinden, wenn ich mich selbst noch nicht gefunden habe? Und den Prozeß könnte Dr. Schrader auch allein führen, – warum soll ich danebensitzen wie ein billiger Statist, wie ein Reklameschild, auf dem zu lesen steht: Seht, das ist der arme Tote, der wieder leben will! So sieht man aus, wenn man zurückkommt und der Dank des Vaterlandes einem gewiß ist …!
Er lachte bitter vor sich hin und blickte dann auf.
»Nein!« sagte er fest. »Ich kann hin, wohin ich will!«
»Schön.« Paul Ermann schien zu fühlen, was in Bergschulte vorging, und drang nicht weiter in ihn. »Ich habe einen Geschäftsfreund in Dortmund, der sucht einen guten Polier. Wäre das nichts für dich?«
»Polier?« Fritz Bergschulte schüttelte den Kopf. »Paul, – das geht doch nicht. Ich habe länger als zwölf Jahre keine Kelle mehr in der Hand gehabt!«
»Na und? Hast du in den zwölf Jahren das Laufen vergessen? Wer einmal auf'm Bau war, der verlernt das nicht in dreißig Jahren. Mehr Mut, Fritz, mehr Selbstvertrauen! – Möchtest du nach Dortmund?«
»Aber ja, Paul, – ja – sofort!« Fritz Bergschultes Augen leuchteten auf. Polier, dachte er. Gleich anfangen als Polier. Da kann ich mir in ein paar Jahren doch wieder etwas Eigenes bauen, da komme ich ja wieder auf beide Beine … Er drückte Paul Ermann glücklich die Hand. Es war, als ob sich sein ausgemergelter Körper streckte, als ob ein neuer Funke aus der Asche seines Herzens sprang. Ein frisches Rot überzog seine fahle Haut und belebte sie.
»Na also.« Paul Ermann griff zum Telefon und drehte die Nummer des Fernamtes. »Fräulein, – einmal Dortmund 43 692. Ja, so schnell wie möglich.« Er legte den Hörer wieder auf die Gabel und klopfte Bergschulte auf die Schulter. »Das ist der Anfang, Fritz«, meinte er und hielt ihm das Ginglas entgegen. »Denn wenn ich hier in Minden wieder einen neuen, guten Polier oder gar Bauführer brauche, dann hole ich dich sofort zurück. Mein alter Junge – ich werde dich Dortmund nur pumpen …«
Hell klangen die Gläser aneinander. Wie Feuer lief der Gin durch Bergschultes Kehle. Er mußte husten.
Es gibt doch noch Kameraden, dachte er dabei.
Und solange es einen Kameraden gibt, ist das Leben nicht hoffnungslos.
Sein Rücken krümmte sich beim Husten. Paul Ermann schlug ihm mit der flachen Hand auf den Buckel und lachte dabei.
Für zwei Männer schrumpfte die Zeit zusammen.
Sie waren zwölf Jahre jünger geworden.
Am nächsten Tag wurde Frau Lina Korngold aus dem Krankenhaus in Vlotho entlassen. Heinrich Korngold wartete unten vor dem Portal mit seinem Wagen, kam ihr entgegen und führte sie die drei Stufen hinunter, die zwischen der Tür und der Auffahrt lagen. Stumm öffnete er den Wagenschlag, stumm stieg Lina in das Auto, stumm setzte sich Korngold daneben und fuhr vorsichtig, jedes Schlagloch der Straße meidend, nach Hause.
In der Wohnung, die mit Blumen überreich geschmückt war und in der Peter seine Mutter mit einem Jauchzer und vielen Küssen begrüßte, half Heinrich ihr aus dem Mantel, hängte diesen wortlos an die Garderobe und ging dann in sein Herrenzimmer, ein wenig nach vorn gebeugt, in den wenigen Tagen sichtlich gealtert.
Lina hörte eine halbe
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