Morgen ist ein neuer Tag
schnellen Blick mit Franz, der hilflos am Herd stand und sich anschickte, in den Kohlen zu stochern. Alter Trottel, dachte sie ärgerlich, hast ihr wohl noch gar nichts gesagt. Das bleibt mir wieder. Na schön – aber nicht mehr heute! Wenn sie's morgen erfährt, ist das auch noch früh genug.
»Fritz?« erwiderte sie. »Ich weiß nicht, wann er kommt. Wir sollen nicht auf ihn warten, hat er gesagt. Er ist schon seit heute mittag weg auf Arbeitssuche. Es wurde ihm etwas versprochen.«
Niemandem fällt es leichter als einer Frau, im Bedarfsfalle glatt und ohne Bedenken zu lügen.
»Prima«, freute sich Lina. »Damit hätte ich gar nicht so rasch gerechnet.«
Mutter Stahl setzte sich wieder und hob den Strickstrumpf vom Boden auf. Lina zog ihren Mantel aus. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß etwas nicht ganz stimmte. Vater machte so ein bestürztes Gesicht. Es blieb eine Zeitlang still zwischen den dreien. Die Luft füllte sich immer mehr mit Spannung, die jeden Augenblick zu einer Explosion führen konnte.
Es war soweit, daß die Lunte zu brennen anfing, als Emma Stahl fragte: »Wie lange willst du bleiben, Lina?«
»Das weiß ich noch nicht, Mutter. Bis wir etwas gefunden haben.«
»Du weißt das noch nicht, was willst du damit sagen? Du hast doch Familie?«
»Peter schläft bei einem Freund. Ich hole ihn morgen.«
»Wohin holst du ihn?«
»Hierher.«
»Hierher? Ich verstehe das alles nicht. Und was ist mit Heinrich? Ihr habt doch eine Wohnung?«
»Mutter«, sagte Lina das, was gesagt werden mußte, »Vater weiß es schon, ich habe Heinrich verlassen.«
»Was hast du?« rief Emma Stahl, wieder aufspringend, ohne auf ihren Strickstrumpf zu achten. »Bist du verrückt? Hast du vergessen, was er dir alles geboten hat, was du durch ihn geworden bist? Dein ganzes Leben wirfst du weg! Deshalb wirst du morgen zu ihm zurückkehren!«
»Nein, Mutter, nie!«
Dieses Nie war ein Schrei – er gellte durch den Raum und traf Emma Stahl wie ein Peitschenschlag.
»Was heißt ›Nie‹? Alles, was du bist, bist du durch Heinrich, wiederhole ich. Endlich hatte ich mich am Ziel all meiner Wünsche gesehen – meine Tochter heiratet den richtigen zweiten Mann! Was warst du bei dem ersten? Eine Arbeitersfrau, eine Proletin!«
»Wie du!«
Dieses Wort zerbrach eine Welt in Emma Stahl. Plötzlich sah sie in grauenhafter Klarheit, daß ihre Tochter jenseits des mütterlichen Ehrgeizes stand und es keine Brücke gab, die zu ihrem Herzen führte. Nur einen Weg schien sie gehen zu wollen, den Weg zurück zu Fritz Bergschulte … aber dagegen stemmte sich der Stolz Emma Stahls, der Stolz, der ihr einredete, daß auch sie zu etwas Höherem geboren gewesen wäre, aber durch die Tücke des Geschickes nicht zur Entfaltung hatte kommen können.
Vernichtet sank sie auf ihren Stuhl und sah ihre Tochter groß an.
»Dein Entschluß steht fest?«
»Ja.«
»Du willst alles aufgeben?«
»Ja. Ich gebe nichts auf, was mir leid tut. Aber ich würde mich selbst aufgeben, wenn ich in dieser entscheidenden Stunde nicht zu Fritz stünde.«
»Und wie stand Heinrich zu dir, als du in Not warst?«
Lina wandte sich ab. »Bitte, sprich nicht mehr davon. Der Preis, den ich bezahlte, war hoch genug. Heinrich gab nichts umsonst.«
Emma Stahl winkte ab und schüttelte den Kopf.
»Er liebt dich …«
»Er ist ein Schuft!«
Emma Stahl merkte erst jetzt, daß sie am ganzen Körper vor Erregung zitterte. Franz stand noch immer am Herd und wagte nicht, sich in das Gespräch einzumischen. Er wußte, daß sich ein Abgrund aufgetan hatte zwischen Mutter und Tochter, der gleiche Abgrund wie zwischen ihm und seiner Frau seit über 35 Jahren, an dem er lange gelitten hatte, bis er ihm gleichgültig geworden war, bis er sein Leben stur weitergelebt und es hingenommen hatte, daß Emma ihm nur widerwillig folgte, allein gehalten durch die Pflicht, die sie an die Seite eines Schuhmachers, eines Arbeiters fesselte. Und nun stand da die einzige Tochter, sie, die das erreicht hatte, wovon die Mutter zeit ihres Lebens geträumt hatte, und die nun zurückkehrte zu dem Mann, den sie liebte, obwohl er nichts war als ein grauer Fleck in der großen Masse Mensch, und die trotzdem glücklich war, sein bedeutungsloses Leben mit ihm zu teilen.
Plötzlich hatte er eine ungeheure Achtung vor seiner Tochter. Knurrend ließ er den Herd Herd sein und warf den Schürhaken in die Kohlenkiste, daß er schepperte. Indigniert sah ihn Emma an.
»Warum belügst du deine
Weitere Kostenlose Bücher