Morgen komm ich später rein
Strecke als länger empfinden.
Weil das Thema Pendeln so viele Menschen angeht, stürzen sich auch die großen Medien immer wieder darauf – voller Mitgefühl
für die Betroffenen, doch in der Regel ohne Lösungsvorschlag. »Der ganz normale Pendler-Wahnsinn« titelte die Zeitschrift
Stern
in einer großen Geschichte 2007. »Stau, Stress, verlorene Lebenszeit. Eigentlich irre. Dennoch: für viele ein Leiden ohne
Ausweg«, so die Zeitschrift. Das wäre natürlich eine ganz und gar deprimierende Analyse – zum Glück trifft sie nicht zu.
Allein zeitliche Flexibilisierung entzerrt den täglichen Pendelwahn. Wenn sich Stephen Alstrup morgens auf den Weg zur Arbeit
macht, ist der Bahnsteig fast leer, die Abteile der S-Bahn ebenso. |39| Denn Alstrup, der seine eigene Softwarefirma namens Octoshape leitet, geht in der Regel erst zwischen elf und zwölf Uhr an
den Schreibtisch. »Früher am Tag bin ich zu nichts zu gebrauchen«, erzählt er. »Da kann ich nur Kaffee trinken und in die
Gegend starren.« Konsequenterweise hat sich der Däne Alstrup einer neuen sozialen Bewegung angeschlossen, die 2007 in seinem
Heimatland gegründet wurde: Die »B-Society« kämpft für die Rechte der Spätaufsteher. Wenn Alstrup gegen 11.30 Uhr ins Büro
kommt, ist meist nur ein Mitarbeiter dort, der tatsächlich gern früh aufsteht – der einzige A-Typ bei Octoshape – sowie vielleicht
noch ein extremer Nachtarbeiter, der gerade seine Spätschicht beendet. Alle anderen kommen, wann sie mögen, teils erst um
15.30 Uhr, jeder nach seinem eigenen Rhythmus. Durch den morgendlichen Berufsverkehr müssen sie sich garantiert nicht drängeln.
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Politisches Lobbying für Telearbeit
Nicht nur den Arbeitsbeginn zu verschieben, sondern Arbeitnehmer ganz vom täglichen Weg ins Büro zu erlösen, würde eine unfassbare
Emanzipation des Menschen von den täglichen Einschränkungen in Raum und Zeit bedeuten. Es würde den allmorgendlichen Horror
in überfüllten U-Bahnen und Bussen ebenso vermeiden wie Verkehrsstaus im Berufsverkehr. Im Schnitt 2 500 Kilometer Arbeitsweg
spart jeder, der sonst mit dem eigenen PKW ins Büro fährt, wenn er stattdessen auf Telearbeit umsteigt. Würden genügend Arbeitnehmer
von zu Hause arbeiten, führte das zu einer deutlichen Abflachung der Verkehrsspitzen.
Die britische Telework Association hat sich genau das zum Ziel gesetzt. Gegründet 1993, ist sie Europas größte Lobbygruppe
mit dem ausschließlichen Ziel, alle möglichen Formen von Telearbeit zu befördern – also Arbeit, die von zu Hause oder unterwegs
aus getan wird. Die Telework Association hat über 7 000 Personen und Organisationen als Mitglieder und gerade wieder eine
Petition an die britische Regierung gerichtet, Telearbeit stärker zu unterstützen. Ein Hauptargument: »Sie kann ein effektiveres
und populäreres Mittel |40| sein, Verkehrsstaus und Luftverschmutzung zu reduzieren als Maut und Vignetten – vorausgesetzt, die Regierung will tatsächlich
das Verhalten der Menschen ändern und nicht lediglich mehr Steuern einnehmen.«
Ihr holländisches Pendant, die E-work Foundation, ist da schon einen Schritt weiter. Gesponsert von Großkonzernen wie der
Rabobank und dem Netzwerkausrüster Cisco, führte nicht zuletzt ihre politische Einflussnahme dazu, dass die traditionell liberalen
und fortschrittlichen Niederlande weltweit die meisten Telearbeiter haben: Nach Angaben der E-work Foundation waren es im
Jahr 2007 21 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, im Vergleich zu 17 Prozent in den USA und 7 Prozent im EU-Durchschnitt.
Die Mission der holländischen Lobbyisten steht dennoch erst am Anfang: »Wir werden unsere Anstrengungen fortsetzen, Telearbeit
zu verbreiten«, so verkündet die 1995 aus einem Anti-Stau-Projekt des Verkehrsministeriums entstandene Stiftung auf ihrer
Website: »Denn Verkehrsstaus und die Anzahl von Fahrzeugen auf den Straßen nehmen zu, während technische Infrastruktur wie
UMTS und Breitband das E-working immer einfacher werden lassen.«
Auch deutsche Forscher sehen die Lösung des Dilemmas in flexibleren und freieren Arbeitsweisen: Prognosen des Berliner Instituts
für Zukunftsstudien und Technologiebewertung sagen voraus, dass bei konsequenter Nutzung neuer Kommunikationstechnologien
innerhalb von zehn Jahren der Berufsverkehr in Deutschland um bis zu 30 Prozent sinken könnte. Eine Million Telearbeitsplätze,
so das Institut der deutschen
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