Morgen letzter Tag!
narrativ und unwahrhaftig. Dass der Gesamtrahmen, der die eigene Existenz ausmacht, auseinanderbrechen könnte, muss abstrakt bleiben, weil ein Auseinanderfallen auch eine radikale und deswegen unvorstellbare Neustrukturierung der in ihm lebenden Subjekte erfordert. Also ein Paradox.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Welt zerfällt, weil ich mir mich selbst nicht radikal anders denken kann. Das kann ich wohl erst, wenn ich muss, also wenn sich der Gesamtrahmen verändert hat.
Dann aber wird meine Vergangenheit zum Narrativ. Also die Gegenwart? Diese Gegenwart, in der diese Zeilen geschrieben werden, wird für mein zukünftiges Ich unvorstellbar werden– werden müssen, weil es sich sonst nicht konstruieren kann?
Bei Sloterdijk heißt es: Du musst dein Leben ändern. Aber nach diesen Überlegungen bedeutet das eher: Du musst dich von deinem Leben ändern lassen. Zulassen, was kommt.
Abb. 11: Jetzt einfach die Perspektive ändern, dann ist die Welt wieder richtig herum. Viel Spaß.
Nicht, dass Sie jetzt glauben, ich sei überraschend ins Lager der Esoteriker übergewechselt. Also gar nicht. Die Unverständlichkeit der Welt reicht mir schon so, auch ohne ein krudes Sammelsurium aus inkohärenten Regeln und aus der Luft gegriffenen Thesen. Aber die Tarotkarte » Der Gehängte« gefällt mir. Ich verstehe sie so, dass man, wenn man glaubt, die Welt stünde auf dem Kopf, möglicherweise selbst auf dem Kopf steht. Jetzt bringt es aber nichts, sich losmachen zu wollen, immerhin ist man festgebunden und an sich hilflos. Aber man kann seine Realität neu konstruieren, dann stimmt alles wieder, auch wenn sich an der Welt freilich nichts geändert hat. (Und tatsächlich: Wenn man lange genug auf dem Kopf steht, » schaltet« das Gehirn um und stellt die Welt wieder auf die » Füße«. Steht man dann allerdings tatsächlich wieder auf den Füßen, braucht das Gehirn wieder einige Zeit, um sich erneut anzupassen.)
Worauf ich hinauswill, ist, dass man immer nur Geschichten erzählt. Auch sich selbst. Die Geschichte ist nur eine Geschichte über die Geschichte, ebenso wie die Gegenwart eine Geschichte über die Gegenwart ist, und selbstverständlich lässt sich auch die Zukunft nur erzählen. Das ist die Art, wie wir uns der Wirklichkeit sowohl annähern als auch vor ihr schützen. Hängt eben von der Geschichte ab. Und wenn ich meine, man könne sich dem Erwartbaren der näheren Zukunft nur über ein Narrativ nähern, dann ist für mich der relevanteste Geschichtenerzähler der kürzlich verstorbene britische Autor J. G. Ballard. Der war 1930 in Shanghai geboren worden und wuchs die ersten Jahre seines Lebens im reichen Botschafterviertel der Stadt auf, bis er und seine Eltern 1943 während des Einmarschs der Japaner in ein Internierungslager kamen, wo er seine Pubertät verlebte. Er hatte also die krassen sozialen Unterschiede, die unsere Welt ausmachen, schon in seinen frühen Jahren von beiden Seiten erlebt. Das wiederum sollte ihn dann den Rest seines Lebens beschäftigen. Ballard wird meist bei Science-Fiction einsortiert, doch dort gehört er nur zum Teil hin. Zum Teil deswegen, weil ihn die üblichen Utopien und Omnipotenzphantasien, die dort in aller Regel verhandelt werden, nicht interessieren. Was ihn aber interessiert, ist, wie Fortschritt gesellschaftliche Veränderungen erzwingt, und die Frage, wohin unser Leben uns führt. Die Science-Fiction ist hier (wie bei jeder guten Literatur) eine Verschärfung der Gegenwart. Ein konsequentes Zu-Ende-Denken dessen, was vorliegt. Von Ballard stammt die Aussage, dass man seit der Mitte des 20 . Jahrhunderts mehr aus der Zukunft lernen könne als aus der Vergangenheit. (Wobei man doch aus der Vergangenheit bislang ohnehin nie was…? Egal.)
Weil das, was an technischen Veränderungen passiert, bedeutsamer in den Verlauf der Dinge eingreift als die gewachsenen Strukturen mit ihrer determinierenden Kraft. Seine Figuren müssen sich immer dramatischen Veränderungen ihres Lebens stellen. Mal geht die Welt unter, weil eine Klimakatastrophe das Leben unmöglich macht. Mal finden sich Menschen in einer Welt, die eigentlich nicht mehr bewohnbar ist. Um sich aber dem Druck von außen anzupassen, bemächtigen sich die Figuren Ballards des Neuen, passen sich an und streifen ihre alten Ichs ab. Und das, was anfänglich eine Katastrophe war, wird zum Lebensinhalt– wird zu etwas, das man begrüßen muss. Es geht immer darum, dem Strom des Daseins zunächst entgegenzutreten,
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